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"Kultur für alle" war immer das Motto von Alice Ströver.

© Felix Grimm

Politikerin und Kulturmanagerin Alice Ströver: Die Lotsin geht von Bord

33 Jahre hat Alice Ströver die Berliner Kultur geprägt, erst als Grünen-Politikerin, dann als Chefin der Freien Volksbühne. Jetzt geht sie in den Ruhestand.

Sie wäre eine großartige Sportreporterin geworden. Eine wortgewaltige, die sich in Rage reden kann, weit ausholt, Details aus dem Ärmel schüttelt, die sich mit heißer Leidenschaft verbal verströmt – wenn man sie lässt auch 45 Minuten lang. Wobei sich Alice Strövers Begeisterung auch an Themen entzünden kann, die nicht halb so sexy sind wie ein Fußball-Lokalderby. Am Wohl und Wehe der Besucherorganisationen beispielsweise, jenen schon vielfach totgesagten, gemeinnützigen Vereinen, die für ihre Mitglieder vergünstigte Theatertickets organisieren.

Seit neun Jahren steht Alice Ströver an der Spitze des „Kulturvolks“, einer traditionsreichen Institution, die 1890 unter dem Namen „Freie Volksbühne“ gegründet wurde, um der Arbeiterschaft Zugang zur elitären Kultur zu verschaffen. So mächtig war diese Bewegung einst, dass sie aus eigener finanzieller Kraft sowohl ein Theater am heutigen Rosa-Luxemburg-Platz bauen konnte als auch, nach dem Krieg, die heute als Haus der Berliner Festspiele bekannte Bühne.

Wenn Alice Ströver über ihren Job als Vereinsvorsitzende erzählt, dann klingt das ebenso spannend wie ein Bericht über den Abstiegskampf von Hertha BSC. Dessen glühende Anhängerin sie ist – weshalb sie das Schicksal des Fußballclubs nur zu gerne live am Mikrofon in den Stadien mitverfolgt hätte.

Doch als die studierte Germanistin und Publizistin Anfang der achtziger Jahre mit dieser Idee beim Radio anklopfte, haben die Herren nur trocken gelacht. Zur Pionierin in Sachen Profifußball-Reporterin wurde einige Jahre später dann Sabine Töpperwien. Alice Ströver hingegen jobbte im Krankenhaus, fuhr Taxi, wurde Uni-Dozentin und ging schließlich in die Politik.

Ihr Ehrentitel lautet "Miss Marple"

Seit 1981 ist sie eine Grüne, 1988 wird sie die erste Fraktionsassistentin der Partei für Kultur, Wissenschaft und, ja auch Sport, im Abgeordnetenhaus. Ab 1995 hat sie dann selbst einen Sitz im Parlament, wird Mitglied im Kulturausschuss, ist dort bald die bestinformierte Volksvertreterin und bekommt im April 1998 vom Tagesspiegel den Ehrentitel „Miss Marple“ verliehen.

Weil sie den scheinbar perfekten Mord am Metropoltheater aufgedeckt hat. Unter dubiosen Umständen ist das zuletzt von Startenor René Kollo geleitete Operettenhaus in die Pleite gerutscht, sämtliche Mitarbeiter werden arbeitslos, Senator Peter Radunski spielt keine glückliche Rolle in dem Drama.

Wie Agatha Christies resolute KrimiProtagonistin ermittelt Alice Ströver mit unkonventionellen Methoden und ist natürlich immer schon vor Ort, wenn die Gesetzeshüter eintreffen. Wobei ihr Antrieb nicht der Ehrgeiz ist, sondern ein dickschädeliger Gerechtigkeitssinn, wie auch bei der literarischen Miss Marple.

Legendär sind Strövers Wortgefechte mit den wechselnden Senatoren, besonders jenen von der CDU. Stets gilt ihre Aufmerksamkeit auch jenen, die abseits des Rampenlichts Kunst machen, selbstausbeuterisch und unter prekären finanziellen Bedingungen.

Vier Monate lang war sie Staatssekretärin für Kultur

Rückblickend kann man die Zähigkeit nur bewundern, mit der sie es 23 Jahre in der Opposition ausgehalten hat. Nur einmal, 2001, als der Diepgen-Senat stürzt, darf sie kurz auf die Seite der Entscheider wechseln, als Staatssekretärin für Kultur. Doch schon vier Monate später ist ihre Amtszeit wieder zu Ende, weil sich nach der vorgezogenen Wahl die Linke das Kulturressort sichert. Sie erhält später zwar noch den Vorsitz in „ihrem“ Ausschuss, aber mehr ist karrieremäßig nicht drin. 2011 verabschiedet sich Alice Ströver aus der Landespolitik, zunächst in die Arbeitslosigkeit.

Doch nicht für lange: Nach einem Intermezzo im Berliner Büro des Bundestagsabgeordneten Wolfgang Wieland beruft sie die „Freie Volksbühne“ zur Geschäftsführerin. Ströver ist 55 Jahre alt, das Durchschnittsalter der Mitglieder liegt bei 72,8. Tagelang sitzt sie im Büro auf dem Fußboden und liest die Gutachten, die sich die taumelnde Volksbühne hat anfertigen lassen.

Am Ende verwirft sie alle Vorschläge der vermeintlichen Experten und wendet sich direkt dorthin, wo sie Potenzial sieht: bei den Wohnungsbaugenossenschaften, den Volksbanken, den Vereinen. Sie will jene Berlinerinnen und Berliner erreichen, die Schwellenängste empfinden beim Anblick der Musentempel, will ihnen klarmachen, dass Oper, Ballett und Klassikkonzerte für alle Steuerzahler da sind.

Sie hat die Mitgliederzahl des "Kulturvolks" verdoppelt

Die Aufgabe einer Besucherorganisation besteht eben auch in kultureller Erwachsenenbildung, findet Ströver, sie soll den Mitgliedern Hilfestellung leisten, Informationen vermitteln und Tipps geben, so wie das auch Freunde tun, wenn sie sich gegenseitig von beglückenden Bühnenerlebnissen erzählen.

Ströver erweitert das Angebot über die reine Hochkultur hinaus, bietet sogar Tickets für ihre geliebte Hertha an, erfindet den neuen Namen „Kulturvolk“, flexibilisiert die Buchungsmöglichkeiten – und kann schließlich sowohl die Mitgliederzahl verdoppeln als auch den Umsatz. 11 000 Veranstaltungen pro Saison umfasst das Angebot, als Corona kommt. Zwar sind 90 Prozent der Mitglieder auch im Lockdown treu geblieben, zahlen weiter ihre 48 Euro Jahresbeitrag, doch Alice Ströver hat dennoch das Gefühl, das ihr die harte Arbeit der letzten Jahre zwischen den Fingern zerrinnt.

Sich unter diesen Umständen zurückzuziehen, widerstrebt einer Kämpferin wie ihr. Aber im August wird sie 66, der 11. Mai ist offiziell ihr letzter Arbeitstag. Sie hat ein Häuschen am Stadtrand, der Ehemann ist bereits verrentet, Enkel und Enkelin freuen sich darauf, dass Oma bald mehr Zeit für sie hat – trotzdem kann man sich Alice Ströver nur schwer im Ruhestand vorstellen. Sobald es die Pandemie zulässt, wird man sie zweifellos als Zuschauerin in den Bühnen der Stadt treffen können – und natürlich im Olympiastadion, bei den Spielen ihrer Hertha, in welcher Liga auch immer.

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