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Kultur: Politikwissenschaft: Ernst Fraenkel - der Missionar

Wer bedrängt wird, erinnert sich leichter. So geht es manchen Vertretern der Berliner Politikwissenschaft, die, unter Sparauflagen leidend, sich ihrer Väter erinnern.

Wer bedrängt wird, erinnert sich leichter. So geht es manchen Vertretern der Berliner Politikwissenschaft, die, unter Sparauflagen leidend, sich ihrer Väter erinnern. Zu ihnen gehört Ernst Fraenkel, der nicht nur das Otto-Suhr-Institut mit aufgebaut, sondern auch das John F. Kennedy-Institut aus der Taufe gehoben hat. In den späten Sechzigern war er bekämpft worden und hatte sich resigniert zurückgezogen. Wer damals Fraenkel als "bürgerlichen Wissenschaftler" abklassifizierte, kann heute nachlesen, was er verwarf. In gemeinsamer Anstrengung von drei Universitäten - Frankfurt/Oder, Greifswald und FU Berlin - erscheint eine Ausgabe mit gesammelten Werken. Sie ist nicht nur etwas für Nostalgiker.

Demokratiewissenschaft

Denn es zeigt sich: Die Berliner Politikwissenschaft hat nach 1945 zwar an die Traditionen der Weimarer "Hochschule für Politik" angeknüpft, sich vor allem aber als eine Demokratiewissenschaft verstanden. In der Auseinandersetzung mit der deutschen Vergangenheit sollten Normen demokratischen Miteinanders entwickelt werden und sich in der Konfrontation mit den Herausforderungen der Gegenwart bewähren. Die westliche Demokratie festigte sich gerade im Vergleich mit diktatorischen Systemen. "Demokratie und Diktatur" bezeichneten die Alternativen des Jahrhunderts und wurden zur wissenschaftlich-politischen Rechtfertigung einer Disziplin, die den Deutschen nach 1945 helfen sollte, ihren "Sonderweg" zu verlassen.

Die Berliner Politikwissenschaftler der ersten Stunden, unter ihnen der aus der erzwungenen Emigration zurückgekehrte Fraenkel, hatten gezeigt, dass sie die Herausforderung ihrer Zeit anzunehmen wussten. Fraenkel hat Generationen von Sozialkundelehrern durch seinen Klassiker "Deutschland und die westlichen Demokratien" geprägt. Seine wissenschaftliche Bedeutung ist unbestritten. Er hatte in der Auseinandersetzung mit dem Ende der Weimarer Republik und der Entstehung eines sich nur bedingt an rechtsstaatliche Normen haltenden "Maßnahmestaates" die Koordinaten seiner politischen Urteilskraft entwickelt.

Seine Beschreibung des NS-Staates als "Doppelstaat" bestimmt bis heute unser Bild des Dritten Reiches. Fraenkel hatte den "Doppelstaat", dessen Urfassung nun erstmals publiziert werden konnte, schreiben können, weil er allgemein zugängliche Urteile der nazifizierten Gerichte zu lesen wusste und auf politische Implikationen abzuklopfen verstand. Angesichts der Realitäten und der eigenen Erfahrungen war die Entscheidung für ein Leben im Widerspruch, im Gegensatz zum NS-Regime und schließlich auch im Widerstand für Fraenkel selbstverständlich. Er litt unter Deutschland, konnte nicht glauben, was er 1943 über den Völkermord hörte, und blieb doch gefesselt an sein Land. Aus der Kritik an den diktatorischen Verhältnissen erwuchs seine politische und wissenschaftliche Mission. Denn neben die Verarbeitung der NS-Zeit trat bald die Auseinandersetzung mit der freiheitlichen Verfassungsordnung. Fraenkel empfand sich als Amerikaner und als Deutscher.

Die Verfassungsordnung des Westens lässt sich ebenso aus zeithistorischer Erfahrung wie aus der ständigen Auseinandersetzung mit diktatorischen Ordnungen begründen. Dies machen vor allem die Studien deutlich, die Fraenkel verfasst hat, um den "Neubau" einer zweiten deutschen Demokratie zu begleiten. Grundlegend war die Erfahrung der terroristischen Wirklichkeit des Dritten Reiches, der Rassenverfolgung, schließlich der Vernichtungspolitik. Seine Studien waren für die amerikanische Regierung bestimmt und empfahlen Fraenkel auch für einen Einsatz als amerikanischer Rechtsberater in Korea.

Viele seiner Studien über Korea waren vergessen und sind erst wieder aus dem Nachlass erschlossen worden. Sie machen deutlich, in welchem Maße das Urteil über Korea, Anfang der Fünfziger das Zentrum einer Auseinandersetzung zwischen Ost und West, lebens- und erfahrungsgeschichtlich bestimmt war. Denn Fraenkel hatte in der Emigration ein neues Verhältnis zu den USA gefunden. Deshalb konnte er in einem frühen Brief an die Familie von Otto Suhr davon sprechen, das "zentrale Erlebnis" seiner Emigrationszeit sei die "allmähliche Loslösung von Deutschland und das Hineinwachsen in die amerikanische Situation" gewesen.

Wie sehr Fraenkel von Amerika beeinflusst worden war, zeigen seine Amerikastudien, die an Umfang alles übertreffen, was er über Deutschland geschrieben hat. Er warb um Verständnis für die USA, verglich die amerikanische Demokratie mit Deutschland, schilderte das amerikanische Verfassungssystem und untersuchte schließlich das deutsche Amerikabild. Dabei ging es ihm nicht um die Schilderung des Fremden, sondern um dessen Veränderung in das Eigene. Die nach 1945 aufblühende Politikwissenschaft sollte Demokratiewissenschaft sein.

Eine Folge der Konfrontation mit den Fehlentwicklungen deutscher Geschichte war die Öffnung für freiheitliche Vorstellungen. Sehr bald wurde die politische Reflexion überlagert von der politischen Auseinandersetzung mit der zweiten deutschen Diktatur, die im Zuge der europäischen Teilung jenseits der Elbe entstanden war und als Herausforderung des Westens begriffen wurde. Sie forderte zum Vergleich auf, forcierte aber auch die innergesellschaftlichen Konfrontationen im Westen, dessen Normengefüge von Fraenkels Studenten an der Verfassungswirklichkeit gemessen wurde. Politikwissenschaft begriffen sie als Oppositionswissenschaft und konnten mit pluralistischen Vorstellungen zunehmend weniger anfangen.

Keine Nachfolger

Eindrucksvoll bleibt die Demonstration einer leistungsfähigen Politikwissenschaft, die politische Philosophie, Institutionenanalyse und Geschichte mit der Rechtswissenschaft und Kulturgeschichte verbindet. Heute heißt es, dieser interdisziplinäre Ansatz sei überholt. Leistungs- und aussagefähig war sie allemal, vor allem, weil Fraenkel den Anspruch auf methodische Integration in seiner Person verkörperte. Nachfolger hat er nicht gefunden. Vielleich erklärt das die Krise der Berliner Politikwissenschaft, die erst in der Not gelernt hat, sich zu einem ihrer Väter zu bekennen.

Peter Steinbach

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