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Ehrliche Haut. Alphaville-Sänger Marian Gold hat noch Biss. Foto: Davids

© DAVIDS

Pop: Für immer jung

Schwitzendes Pathos einer goldenen Pop-Dekade: Eindrücke von der „Back to the 80s“-Party in der O2 World, wo Alphaville, Nik Kershaw, ABC, Level 42 und Tony Hadley von Spandau Ballet auftraten.

Wir sind drin! In der O2-World! Von außen ein Raumschiff, von innen ein Sarg! Lasst uns untergehen! Ab in die achtziger Jahre! Das Motto der Retroparty lautet „Back to the 80s!“ Zum Tanz bitten Nik Kershaw, ABC, Alphaville, Level 42 und Tony Hadley, die Stimme von Spandau Ballet. Die Halle ist schütter besetzt, die oberen Ränge verhüllt, etwa 7000 Zeitreisende wollen den zuckrigen Romantic- Pop schlürfen. Eine dralle Moderatorin in hautengen Jeans spricht mit uns, als seien wir Kleinkinder: „Ich bin stolz auf euch, das klappt richtig gut mit dem Applaus!“ Ach wirklich?

Ich sitze zunächst im Ehrenbereich, ein anderes Wort für leblose Zone. Nik Kershaw spielt aber auch zu traurig auf. Man merkt, dass er lieber Studiomusiker ist. Neben mir sitzt eine reglose Familie. Sind die in den Achtzigern eingesperrt? Kershaw singt „The Riddle“, seinen größten Hit. Wouldn’t it be good if we could wish ourselves away? Ich sag „Ja!“, verlasse die Ränge und gehe direkt in den Innenbereich. Dann, nach fünf Songs, geht auch schon das Licht an. Umbaupause. Ein DJ, der angeblich in Neuseeland ein Star ist, spielt derweil Hits der Achtziger. Die Frauen, sie sind heute Abend in der Mehrzahl, holen Sekt oder Bier, die Männer blicken auf ihre Smartphones. Das Smartphone! Es killt den Augenblick! Entweder fungiert es als mobiles Büro oder als Schatzkästchen und Erlebnisschatulle, mit dem man die Stars und Momente einfängt.

Klick! Licht aus, Spot an! Martin Fry, der Kopf und die Stimme von ABC betritt die Bühne. Ein Herr in seinen Fünfzigern. Im grauen Anzug. Hinterhaupt kahl. Mit „The Lexikon of Love“, produziert von Trevor Horn, gelang ABC 1982 ein auch heute noch funkelnd schönes, unsterbliches Pop-Album. Welterfolg! Fry zeigt, wie es gehen kann, das Überleben. Mit Würde! Professionell! Gut bei Stimme! Augenzwinkern! Kristalliner Sound! Mit „The Look of Love“ kommt es zum kleinen Pop-Orgasmus! When your world ist full of strange arrangements! Das ist Pop-Noblesse! Danke! Und Pause! Fühle mich für Augenblicke wie verstorben.

Das ist eine Party, auf der immer einer das Licht anmacht, wenn wir uns gerade ... Wir, die Retrojünger, sind ohnehin ekstasescheu, selbstkontrolliert. Aber wir wollen auch tanzen! Vergnügungstüchtig! Verdrossenheit kommt auf. Die Menschen trinken Bier und lächeln nicht. Alle sind frisch geduscht, wirken wie neu eingekleidet, Haar- und Hautsorgfalt. Und dann Alphaville. Der Leadsänger Marian Gold, letzter Mohikaner der Band, gibt alles. Ehrliche Haut, schwitzt das Pathos der goldenen Pop-Dekade. Hat noch Mumm, Biss, will was. Alphaville gehen mit ihrem Songmaterial am respektlosesten um. Spielen sogar einen neuen Song! Der Sound ist nicht gut, aber die leben. Die Bassistin knallt ihren Kopf gegen Luftwände. Und dann die Hymne, unser Vergänglichkeitsblues, unser kleiner Gottesdienst: „Forever young“.

Zwei Frauen, Mitte vierzig, eben noch hüftbewegt, stehen jetzt still, kameradschaftlich umschlungen. Feuerzeuge hoch! Ja, wir gehen unter! It’s so hard to get old without a cause. Forever young, I want to be for ever young! Das erste und einzige Mal an diesem Abend altmodische „Zugabe!“- Rufe. Das Schlachtfeld des Alters liegt vor uns. Und die nächste Umbaupause. Am Bier festhalten. Jetzt knallt der entfesselte Daumen von Mark King auf die Saiten und wir wissen, dass Level 42 aufspielen. Hab sie nie gemocht. Der leidlich brutale Bass konnte nie die Seichtheit der Songs verbergen. Bass-Despotismus! Einige halten sich die Ohren zu. Level 42 sind die lautesten. Plank, Plank, Plank! Immerhin tanzen jetzt einige. Ja, wir sind alle mit Handbremse und Airbag unterwegs. Es ist eine Ü-40-Party! Viele Singles halten Ausschau nach dem nächsten Lebensabschnittsbegleiter. Wandelnde Bierstationen ziehen durch die Menge, oben ein tanzendes Wimpelchen am 12-Liter-Fässchen.

Jetzt betritt der letzte Seelenbetanker die Bühne, Tony Hadley, Frontman der Gruppe Spandau Ballet, der Band, der wir Balladen wie „True“, „Gold“ oder „Through the Barricades“ verdanken. Ohne diese Monster-Schmusekätzchen kommt keine Achtziger-Jahre-Party aus. This is the sound of my soul. Tony, auch er im Anzug, hat immer noch Präsenz und eine tolle Stimme. Lacht sich halb tot. Singt „Somebody told me“ von The Killers, später „Somebody to love“ von Queen. Ja, ein bisschen Party-Stimmung. Aus! Schluss! Und dann noch „Santa Claus is coming into town“. Alle im Chor. Nur Nick Kershaw fehlt. Ich stelle mir vor, er sitzt tief im Keller unter der Arena und weint. Oder er telefoniert mit seinen Kindern. Wie auch immer. Wir flüchten. Husch, husch, heimwärts!

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