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Kultur: Pop-Kultur: Rebellion in der Geschmacksdiktatur

Vor einigen Jahren forderte der kritische Pädagoge Henry Giroux in den USA eindringlich, dass die Beschäftigung mit populärer Kultur in die Lehrpläne der Schulen gehöre: Lehrer müssten endlich mit ihren Schülern über Shopping Malls, Spielhallen, Coffee Shops oder Platten reden. Früher hätte die Vorstellung, mit einem Lehrer über die letzte Platte der Band X zu diskutieren, bei Jugendlichen zweifellos Zähneknirschen provoziert - schließlich war diese Platte auch erworben worden, um der Welt der Eltern und Lehrer zu entkommen.

Vor einigen Jahren forderte der kritische Pädagoge Henry Giroux in den USA eindringlich, dass die Beschäftigung mit populärer Kultur in die Lehrpläne der Schulen gehöre: Lehrer müssten endlich mit ihren Schülern über Shopping Malls, Spielhallen, Coffee Shops oder Platten reden. Früher hätte die Vorstellung, mit einem Lehrer über die letzte Platte der Band X zu diskutieren, bei Jugendlichen zweifellos Zähneknirschen provoziert - schließlich war diese Platte auch erworben worden, um der Welt der Eltern und Lehrer zu entkommen.

Doch die Situation hat sich verändert. Werbung und Marketing haben die rebellischen Gesten der Populärkultur übernommen und deren Protagonisten sprachlos gemacht. Der Protest schmeckt schal, wenn kommerzielle Musiksender mit perfekt gestylten Moderatorinnen zur "Radikalisierung des Lebens" auffordern. Dennoch sind in diesem Frühjahr drei Platten erschienen - vom Rapper Jan Delay, von der Band Blumfeld und vom Techno-Produzenten Matthew Herbert - die auf verschiedene Weise versuchen, ihren Unmut auszudrücken. Es sind Versuche, die Rebellion zu retten. Aber kann unter heutigen Bedingungen kulturelle Opposition noch funktionieren?

Cool sein geht über alles

Giroux erwartet nicht zu Unrecht, dass die Schule populäre Kultur "lesbar" macht. Denn ansonsten werden Jugendliche von den heimlichen Lehrplänen von Werbung und Medien "programmiert". Deren "Schulung" ist oft schwierig zu durchschauen, denn nicht nur die Rebellion, sondern auch eine Kulturkritik ex-linker Provenienz sind heute feste Bestandteile der Konsumideologie. "Was ist cool?", fragte im März etwa die Illustrierte "Focus". Während ein Untertitel besorgt auf "die Geschmacksdiktatur der Spaßgesellschaft" hinwies, versprach der andere die "aktuelle In & Out"-Liste". "Die Unkenntnis dessen, was man tragen, reden oder kaufen soll, führt in die gesellschaftliche Isolation", wird im zugehörigen Artikel behauptet. Die Feststellung klingt wie ein Befehl: Wer nicht mitmacht, ist draußen.

Die zur Schau getragene Skepsis stört die Regentschaft der "Coolness" nicht. Im Gegenteil, ein gerüttelt Maß an kulturkritischer Missbilligung kann sogar den Erfolg sichern - der Triumph von "Big Brother" spricht Bände. Derweil haben sich die Strategen der öffentlichen Unterhaltung auch den rebellischen Gestus der Popkultur einverleibt, um die Waren zu immer besseren und feineren Image- und Identitätsangeboten zu machen.

Dass etwa Basketball in den neunziger Jahren auch hier zu Lande zur Lieblingssportart der individualisierten In-Jugend wurde, ist das Ergebnis einer generalstabsmäßigen Reform der US-Liga durch den damaligen Beauftragten David Stern. Zunächst ließ er kurzerhand die Regeln des Spieles verändern, um das Kombinieren innerhalb der Mannschaft durch die stilistische Akrobatik von einzelnen "Shootern" zu ersetzen. Dann bediente er sich skrupellos aus dem Repertoire der urbanen schwarzen Jugendkultur, um dem Spiel ein "cooleres" Image zu verpassen: Das Design von Hosen und Trikots bezog seine Inspiration aus der schwarzen streetwear, die Grafik ähnelte zunehmend der Graffiti auf den Straßen und der Soundtrack wurde HipHop. Ähnliche "Re-Launches" mit Hilfe von Jugendkultur haben auch deutsche Firmen hinter sich - etwa Adidas oder C & A.

Generation Spießer

Diese kommerziellen Identitätsangebote wirken so verlockend, weil die eigene Identität für viele Junge fraglich ist. Mit den sozialen Milieus haben sich auch deren feste Rollenbilder aufgelöst. Für Jugendliche, die ihre Persönlichkeit durch mühsame Arbeit selbst formen müssen, sind heute Werbung und Medien die "Ausbildung". Dort lernt man Rollenbilder und die Kunst des differenzierten Konsums - Konsum formt die eigene Individualität.

Diese Sozialisationsqualität der Massenkultur ist einem neuen Typus von Konservativen nicht verborgen geblieben. So wurden in dem Buch "Generation Golf" des Redakteurs der "Frankfurter Allgemeinen" Florian Illies die Produkte der Kulturindustrie als quasi natürliche Erziehungsinstanzen zur Bejahung des Status quo präsentiert. Etwa der ehedem beliebte Zauberwürfel: "So haben wir früh gelernt, dass es die Basis eines jeden Spiels ist, dass klar ist, was wohin gehört." Illies argumentiert wie ein Spießer - Konsum statt Rebellion. Er verallgemeinert seine eigene ziemlich langweilige Biographie zum Typus einer Generation. Daher rührt der Erfolg des Buches: Die Leser dürfen sich ebenfalls für "cool" halten. Fit für die Geschmacksdiktatur. In diesem Sinne ist Illies Buch - ebenso wie andere Werke der so genannten Popliteratur - die neueste Version des bürgerlichen Bildungsromans.

Dieser neue populäre Konservatismus treibt manch von links kommenden, Adorno-kundigen Kritiker zur Weißglut. In der "Zeit" beschwerte sich Thomas Assheuer etwa über die "flächendeckende Anwendung der Popästhetik", die kein "Außen" mehr kenne. Jürgen Wertheimer und Peter Zima, Herausgeber des Sammelbands "Strategien der Verdummung", beklagen angesichts der "Infantilisierung in der Fun-Gesellschaft" die Erosion von "kritischen Haltungen" und dem "Sinn für Nuancen". Freilich ist es bei den genannten Autoren mit der Nuancierung auch nicht weit her. Hier wird unterschiedslos alles unter Pop oder Fun-Gesellschaft rubriziert, was man nicht so richtig kennt und irgendwie als falsch empfindet. Die Rettung kann da nur aus der Hochkultur kommen, von Literatur oder Theater. Interessanter als dieses Konzept ist die Frage, wie sich Kritik innerhalb der populären Kultur artikuliert.

Jan Delay - Rapper der "Absoluten Beginner" - den ein Autor der "Zeit" bei der letzten Platte noch auf dem Weg in die "Neue Mitte" sah, attackiert auf seinem Reggae-Album searching for the jan soul rebels "die mit dem Sonnenbank-Funk und den Talkshow-Soul, die mit dem Kaufhaus-Punk und Hannoveranischem Rock n Roll". Und: "Ihr wählt doch sonst immer das Falsche, wenn ihr die Wahl habt, ihr steht doch sonst immer auf sauber, ordentlich und aalglatt."

Auch die Band Blumfeld schien mit dem letzten Album auf dem Weg zu immer mehr ästhetischer Verfeinerung. Doch auf der aktuellen Platte Testament der Angst singt Mastermind Jochen Distelmeyer zu extrem einfachen Arrangements: "Männer, Frauen, Junge, Alte, lassen sich für dumm verkaufen, kaufen, kaufen, kaufen. Ihr habt immer nur weggesehen, es wird immer so weitergehen, gebt endlich auf - es ist vorbei!"

Der britische Musiker Matthew Herbert formuliert eine ästhetische Kritik des Sampling. Mitte der 90er riefen Popkritiker wie Ulf Poschardt den Discjockey ernsthaft zum ersten Künstler des nachdialektischen Zeitalters aus. Techno-Produzent Herbert hält das Sampling von Musik und das Verwenden vorprogrammierter Sounds heute für ein Verhängnis: für kolonialistischen "Diebstahl geistigen Eigentums" und eine "sublime Ausweitung des Konsumismus". Der ganze House-Sektor habe sich in eine "schlechte Kapitalismus-Travestie" verwandelt.

Seine Platte freilich ist durchaus einschmeichelnd: Zu den von Herbert gebastelten Rhythmen und "Realitätssamplern" (dazu gehört Alltagslärm ebenso wie Geräusche aus dem Körperinnern) singt seine Lebensgefährtin Dani Siciliano quasi eine Neuauflage von Roland Barthes "Fragmente einer Sprache der Liebe". Das Ganze klingt wie auf den aktuellen Stand gebrachter britischer Clubjazz der frühen 80er.

Delay, Distelmeyer und Herbert sind extrem individualistische Musikertypen, die ihren Generalangriff durch zugängliche musikalische Formen vermitteln. Das Einfache ist Konzept: Es soll nicht mehr um Abgrenzungen und Verfeinerungen innerhalb bestimmter Subkulturen gehen, sondern, vor allem bei Delay und Blumfeld, um eine bewusst platte Attacke auf "Ihr da draußen". Im Video zu Jan Delays erster Singleauskopplung "Ich möchte nicht, dass ihr meine Lieder singt" zog der Rapper in schlabberiger Tarnkleidung, Palästinensertuch und überdimensionierter Sonnenbrille durch den Kölner Karneval - bewaffnet mit einem Plastikmaschinengewehr. Der Karneval symbolisierte dabei gleichzeitig die Spießerfreakshow, mit der Delay nichts zu tun haben wollte, als auch ein ironisches Refugium für die eigene Militanz. Offenbar war er sich darüber bewusst, dass seine gesungene Guerilla etwas Karnevaleskes hat. Delay stammt aus der Hamburger Autonomenszene und zweifelsohne könnten seine Songs zum Soundtrack für die nächste Demo der Globalisierungsgegner werden.

Doch sein ironisches Spiel mit der Militanz macht auch ein Identifikationsangebot für die "Neue Mitte". Denn auch dort muss man sich wie ein Freischärler allein seine Schneise durch die Welt schlagen. Und man wird zum Ziel von "Guerilla-Management" und "Partisanen-Marketing". "Weißt du, wofür Che Guevara steht? Für meine persönliche Freiheit", erklärte jemand in Fatih Akins Film "Im Juli". Und Delays Anspruch auf Exklusivität ist natürlich alles andere als das: Selbstverständlich schaut man auch in der "Neuen Mitte" verächtlich auf jene mit dem "Sonnenbank-Funk" herab.

Blumfeld dagegen sind keineswegs ironisch. Ihr Angriff auf die "Diktatur der Angepassten" ist gepaart mit Jochen Distelmeyers Weltschmerz: Es geht ein wenig um Rebellion - aber meistens um Angst. Das lyrische Ich in den Texten hat Angst vor allem und jedem: vorm Alleinsein, vor den Armen und den Reichen, vor dem Alltag und den Träumen. Man kann das als eine Diagnose jener diffusen Angst lesen, von der der neue Mittelstand geradezu besessen ist. Doch dann gehört der Ekel vor den "Angepassten" mit ihrem "Geld, Gestell und Genotyp" ebenfalls zur Subjektivität der "Neuen Mitte".

In der auch hier zu Lande viel beachteten Lobrede des US-Journalisten David Brooks auf die Bobos - die "bourgeoisen Bohemiens", die inzwischen einen bedeutenden Teil der Eliten bilden - wird dieses widersprüchliche Verhalten beschrieben. Die Bobos seien wohlhabend und erfolgreich, würden aber gleichzeitig darauf bestehen, rebellisch und unorthodox zu bleiben. Materialismus gelte als unfein, während die Angst stets zum Alltag gehöre: "Das Ende ihrer Karriere lauert hinter jeder Ecke. Ja, für die Bildungselite ist sogar das Privatleben zu einem Eignungstest geworden. Wir alle müssen uns ständig den sich ununterbrochen ändernden Vorstellungen von korrektem Verhalten, den immer anspruchsvolleren Anzeichen einer immer weiter fortschreitenden Kultivierung anpassen." Insofern passt Distelmeyers Schwanken zwischen Angst und Ekel ausgezeichnet zu den Befindlichkeiten der Bobos: Er formuliert damit ein ähnliches Identifikationsangebot wie in der Literatur Michel Houellebecq (Beigbeder würde dann eher zu Delay passen).

Dass die Populärkultur immer ein Feld immenser Widersprüche war, macht sie für die neuen Eliten nicht länger zum Ärgernis, sondern zur ausgezeichneten Ressource für "Bildung" - Platten, Videos und Stilfragen sind für die Identität der heutigen Neobürger ebenso bedeutungsvoll wie die Hochkultur in vergangenen Tagen. Auch Matthew Herberts Einwände bleiben in diesem Teufelskreis stecken. So kann man Herberts Ablehnung des Sampling auch als besonders geschickte (oder perfide) Art und Weise betrachten, im gleichgültigen Feld der Populärkultur noch einen scharfen Unterschied zu markieren. Seine intelligenten Metamorphosen beschäftigen auch das FAZ-Feuilleton, seine Konzerte sind voll. Denn es gibt eine gewisse Übersättigung an Bands, die aus ihrer riesigen und höchst geschmackvollen Plattensammlung eine weitere geschmackvolle, versierte, aber leere Produktion zusammenstellen. Da kommt Herbert zur rechten Zeit - zumal seine Musik, die an der Benutzeroberfläche nach Clubjazz klingt, letztlich vom Pfad des Geschmackvollen keineswegs abweicht.

So what? Die drei Musiker formulieren, ästhetisch und politisch, eine ernst gemeinte und ernst zu nehmende Kritik. Was soll es denn derzeit Besseres geben als wütende Totalopposition? Doch offenbar ist es in der Populärkultur - und überhaupt der Kultur - mittlerweile unmöglich geworden, einen Einwand zu formulieren, der nicht wiederum als Differenzangebot aufgefasst werden kann. Auch der Einspruch gegen die konsumistische Differenzkultur ist - eine Differenzgeste. Vor allem dann, wenn dem "Ihr", von dem sich der Kulturschaffende abwendet, kein soziales "Wir" mehr gegenübersteht, sondern zunächst bloß ein Individuum.

Wie radikale rhetorische Gesten funktionieren, das konnte man in den letzten 20 Jahren in der schwarzen Musik in den USA beobachten. Man denke an die Band Public Enemy, in deren Videos auch mal der Wagen eines rassistischen Politikers in die Luft gesprengt wurde. Der Rapper Ice Cube präsentierte sich auf dem Album "Death Certificate" sogar mit der Leiche von Uncle Sam. Trotz der Angriffe gegen Weiße kauften weiße Jugendliche in Massen die CDs - Militanz und Gangstertum dienten als Individualismus- und Männlichkeitsentwürfe. Mittlerweile sind sämtliche Formen von minderheitlicher und widerspenstiger Kultur in den virtuellen Schaufensterauslagen der Unterhaltungsindustrie zu besichtigen. "Als Amerikaner", kreischt Wolfgang Joop begeistert, "wäre ich dunkelhäutig. Because white man can t jump." Der Rapper Puff Daddy ist für ihn der "neue Versace".

Die Differenz ist die Hölle

Wie eng der Spielraum im hippen Musikfernsehen für abweichendes Verhalten ist, das demonstrierte kürzlich ausgerechnet Hape Kerkeling. Er schmuggelte sich und zwei Kollegen als fiese finnische Rapgruppe in eine Viva-Nachmittagssendung und randalierte dort ganz traditionell. Dabei zeigte sich, dass Rülpsen und Pöbeln immer noch auf sehr gewöhnliches, vehementes Unverständnis stößt. Die rebellische Geste ist hingegen gestattet, wenn sie sich an die Inszenierung hält: So dürfen sich die beiden Mitglieder des deutschen DJ-Projektes Ego-Express während eines Interviews mit einer genervten Charlotte Roche zwar Flaschen auf dem Kopf zerdeppern - aber nur weil der Sender die Flaschen vorher austeilte und alle über die Provokation informiert waren.

1985 behauptete Diedrich Diederichsen in dem Buch "Sexbeat": "Wir wollen nicht länger Zeuge der Sinnstiftung qua Kultur sein. Was die Wahrheit ist, wissen wir nur ex negativo: das Gegenteil von Kultur." Damals forderte er eine "Post-Kultur" - ein Gedanke, der seitdem vergessen wurde. Zu Unrecht. Die Fähigkeit zur Kritik setzt heute die von Giroux vorgeschlagene Alphabetisierung in Sachen Pop voraus - und sie beinhaltet die Frage nach der Legitimation von Kultur. Zwar steht in der Postmoderne angeblich alles und jedes unter Rechtfertigungsdruck - Kultur jedoch gilt weiterhin als gut. Dabei weist nur die radikale Überwindung von Kultur einen Fluchtweg - der Rest ist Schmoren in der Differenzhölle.

Mark Terkessidis

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