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Konzertkritik: Antony & The Johnsons: Widerstand ist zwecklos

Im Admiralspalast flutet der heidnische Jesusfreak Antony Hegarty alle Tränenkanäle.

„I‘m not a Christian, I‘m a Witch“, haucht Antony Hegarty, bevor er im Admiralspalast den Song „Hope Mountain“ anstimmt. Das Lied handelt von einem wiederkehrenden Jesus und von ihrem Versuch, über Wasser zu wandeln – denn dieses Mal wird es ein Mädchen sein. Antony selbst scheint auch über Wasser zu wandeln. Seine Karriere ist eine der ungewöhnlichsten der letzten Jahre. Mit todestraurigen Balladen, deren vordringlichstes Thema sein transsexuelles Gefangensein in einem ungewollten, männlichen und unförmigen Körper war, hat der Wahl-New-Yorker den Sprung aus der dortigen Kleinkunstszene ins Zentrum einer neuigkeitsversessenen Popwelt geschafft. Antony hat den ersten Hype, der 2005 in der Verleihung des britischen Mercury Prize gipfelte, stoisch über sich ergehen lassen.

Er mag mittlerweile ein Star sein – der Admiralspalast ist seit Monaten ausverkauft –, an seinem unglamourösem Auftreten hat sich wenig geändert. Es herrscht diffuses Zwielicht, als Antony & The Johnsons zum Auftakt das flotte „Where is my Power?“ intonieren. Erst nach und nach erhellt sich der Saal, grellen Spots setzt sich der 37-jährige nie aus. Antonys Bühnenverhalten entbehrt jeglicher Showelemente: Er sitzt fast reglos, mit abgewandtem Gesicht am Konzertflügel, dem er zum versierten Spiel seiner sechs Begleiter sparsam dosierte Akkorde entlockt. Zwischen den Liedern murmelt er höchstens mal „Thank you“, stellt beiläufig die Band vor und reagiert nur mit einem Giggeln auf einen kecken „Talk to us, Antony!“-Rufer.

Antony Hegarty ist kein Frontmann, kein Tänzer, kein Poser, keine Rampensau. Er ist lediglich Sänger, allerdings einer, wie es in der Popmusik der Gegenwart keinen zweiten gibt. Seine Stimme ist zugleich volltönend und zitternd, kristallklar und verhangen, männlich und feminin. Sie scheint alles Leid der Welt zu kennen und in sich aufzusaugen, denn ihre Wirkung, so bitter die Texte auch sein mögen, ist allumfassend tröstend. Seine Mitmusiker tragen ihn auf Samtpfoten durch die Stücke, wobei die älteren wie „You are my Sister“ oder „Cripple and the Starfish“ aufmüpfiger und rhythmisch aufgekratzter als im Studio klingen.

Interessanterweise werden die Songs am heftigsten bejubelt, die Antonys Naturell am wenigsten zu entsprechen scheinen: Das in einem frühlingshaften Folk-Groove dahertänzelnde „Kiss my Name“, das wie ein spätes Velvet-Underground-Stück schnurrende „Aeon“ und vor allem das beinahe rock'n'rollige „Shake that Devil“ mit Doo-Wop-Chören und quietschendem Saxofonsolo kommen der offenbar auch unter Antony-Fans verbreiteten Sehnsucht nach Expressivität am nächsten.

Im Vergleich zu seinem denkwürdigen Auftritt in der Volksbühne im Herbst 2005 bleibt der jetzige zwar nicht zurück. Doch abgesehen davon, dass die erste Live-Begegnung mit dieser Stimme unwiederholbar bleibt, hat Antony durch die hinzugewonnene Souveränität auch etwas verloren: Man bangt nicht mehr mit ihm, weil man weiß, dass er jeden einzelnen Ton dieser unglaublichen Lieder meistern wird. Wobei ihn seine Begleiter, allen voran der an Gitarre, Saxofon und Klarinette brillierende Doug Wieselman, traumhaft sicher durch alle Untiefen der ausgeklügelt kammermusikalischen Arrangements navigieren. So könnte am Ende, nach eindreiviertel bewegenden Stunden eine winzige Enttäuschung stehen. Wenn nicht noch dieses eine Stück käme, das jeden Vorbehalt mit einer Emotionswoge wegspült: „Hope there‘s someone“ bleibt in seiner porzellanfeinen Zerbrechlichkeit und Schönheit erschütternd, schnürt einem den Hals zu und flutet die Tränenkanäle.

Nach minutenlangem Applaus kommt Antony mit seiner ausgebeulten Umhängetasche nochmal zurück und stimmt mit den Zuschauern einen rührenden Mitsing-Chorus an. In der Geborgenheit des Augenblicks wiegt sich das Publikum wie Seegras und zieht dann glückstrunken von dannen.

Jörg W, er

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