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Konzertkritik: Dirty Projectors: Die betörende Gleichzeitigkeit des Unvereinbaren

Im Festsaal Kreuzberg spielt das Sextett aus Brooklyn ein mitreißendes Konzert jenseits aller Indierock-Stilvorgaben.

Das fängt ja gut an: Hinter dem Projektnamen Tune-Yards verbirgt sich eine junge Amerikanerin, die mit einer energiegeladenen Irrer-Folkgesang-mit-Ukulele-und-Sampler-Performance ihren Vorgruppenstatus vergessen macht und das Publikum im Festsaal Kreuzberg zu ersten Jubelstürmen hinreißt.

Dennoch kein Vergleich zu dem, was noch kommt. Denn die Dirty Projectors sind so ziemlich das aufregendste, was man derzeit im amerikanischen Indierock zu hören bekommt. Das wie viele großartige Bands aus Brooklyn stammende Kollektiv schart sich in der aktuellen Besetzung fünfköpfig um Sänger und Gitarrist Dave Longstreth: ein langer Schlacks, dessen Physiognomie und Bewegungsmuster an den Komiker Jim Carrey erinnern. Musikalisch muss man ihn sich als einen Bastard aus den Erbanlagen von Captain Beefheart, Brian Wilson, Fela Kuti und David Byrne vorstellen, was sich in seinen irrwitzig zerklüfteten, aber immer wieder zu himmlischer Schönheit emporschwingenden Songs äußert.

Longstreth mag Mastermind und Zentrum der Dirty Projectors sein, zum Spektakel wird die Band aber erst durch das fantastische Kollektivspiel aller Mitglieder. Von bestürzender Schönheit sind vor allem die unfassbaren, milisekundengenau getakteten Wechselgesänge von Amber Coffman, Angel Deradoorian und Haley Dekle, die ansatzlos von gellendem Furiengekreisch zu sakralem Engelsgesäusel und wieder zurück switchen, als wäre das gar nichts. Welche stimmtechnische Leistung dahinter steckt, ahnt man erst, als Angel Deradoorian die heimlichen Raucher im Publikum inständig bittet, ihr illegales Tun einzustellen.

Hinter den drei Frauen, bei denen Coffman als Minimalgitarristin noch ein cooles Gegengewicht zum genialisch splittersolierenden Longstreth bildet, rumpelt Brian McOmber am Schlagzeug – erst trocken, dann durchgeschwitzt, dann mit nacktem Oberkörper. Bei Bedarf spielt er stumpfe Discorhythmen im Viervierteltakt, erkennbar lieber verfällt er aber in jazziges Irrsinnsgeklöppel, zu dem Nat Baldwin filigrane Bassläufe modelliert.

Was die Dirty Projectors zu einer herausragenden Band macht, ist die Fähigkeit, aus all den disparaten Elementen, aus der Gleichzeitigkeit des Unvereinbaren eine zwar komplexe und fordernde, aber stets mitreißende und auf unerwartete Weise sogar eingängige Popmusik zu formen.

Nach 80 Minuten demonstrieren sie dieses Prinzip, das außer ihnen vielleicht noch Yeasayer ähnlich traumwandlerisch beherrschen, nochmal bei der frei assoziierten Coverversion von „Rise above“: Den Punkkracher der kalifornischen Hardcore-Legende Black Flag morphen die Dirty Projectors zum multiperspektivischen Mix aus Afropop, New-Wave-Gezicke, Westcoast-Folk, Scheppergitarre und diesem Stimmengewirr, das man einfach nicht mehr aus dem Kopf bekommt. Ganz groß!

Jörg W, er

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