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Konzertkritik: Ganz weit draußen

Proto-Grunge trifft entfesselten Free Rock: Kurt Vile & The Violators und die Akron/Family spielen im Festsaal Kreuzberg ein beglückendes Konzert

Von Jörg Wunder

Schräge-Vögel-Alarm im Festsaal Kreuzberg. Zuerst Kurt Vile & The Violators: vier langhaarige Typen, die aussehen wie versprengte Westcoast-Hippies der zweiten Generation, nachdem das Love-and-Peace-Gekuschel durch diverse Realitätsschocks handfestere Ausdrucksformen angenommen hatte. Als Drei-Gitarren-Armada mit betont grobmotorischem Drummer und Viles nölig vernuscheltem Gesang klingen sie wie ungefähr 1986 der brachiale Proto-Grunge von Dinosaur Jr. oder den ganz frühen Soundgarden. Fünf Jahre später entstand aus dieser Ursuppe ja das Pop-Phänomen Nirvana oder die späten, sehr erfolgreichen Soundgarden. Sollte man also mindestens bis 2016 im Auge behalten, zumal Herr Vile an diesem Abend zwar reichlich derangiert wirkt, aber selbst in diesem Zustand eine bezaubernde kleine Solo-Songwriter-Zugabe hinbekommt. Und, ganz ehrlich, Kurt Cobain sah in seinen frühen Jahren auch nicht wie ein Posterboy aus. Die Crowd im gut gefüllten Festsaal ist jedenfalls begeistert.

Schon typologisch gehören Akron/Family, die weder aus der amerikanischen Reifenmetropole Akron stammen noch verwandt oder verschwägert sind, zu einer anderen Rock-Gattung. Statt langhaarig und bartlos ist das Trio aus New York tendenziell kurzhaarig und vollbärtig, also eher dem intellektuellen, urbanen Weird-Folk-Umfeld zuzuordnen. Außer Gitarrist Seth Olinsky, der mit Bart, Vokuhila-Matte und Basecap nach Trailerpark ausschaut.

Krautrock-Expeditionen mit Splittergitarre

Zunächst müssen sich die drei in Geduld üben, weil der Tontechniker mit dem T-Shirt-Aufdruck „Eddie is your friend!“ noch hektisch an Reglern und Kabeln rumfummelt. Tatsächlich bleibt der Sound auch die folgenden 90 Minuten seltsam komprimiert, was aber gut zur Musik passt. Denn die ist, vorsichtig ausgedrückt, ganz weit draußen. Ein paar Mal deuten Akron/Family mit betörenden Satzgesängen beiläufig an, dass sie auch so schmusige Folk-Hymnen wie die Fleet Foxes spielen könnten – wenn sie nur wollten. Doch sie haben ganz anderes vor. Zum Beispiel das Publikum durch viertelstündige Krautrock-Expeditionen mit Splittergitarre und Stimmbandexzessen an den Rand der Raserei bringen. Can lassen schön grüßen. Zwischendurch, Schlagzeuger Dana Janssen drischt ungerührt seinen superelastischen Groove weiter, gibt’s ein bisschen Kraftsport, als Bassist und Extremsänger Miles Seaton ins Auditorium stürmt, einen Gast kopfüber schultert und durch die Menge bugsiert. Dann klingen sie plötzlich wie das legendäre Powerrock-Trio Cream. Nur dass Seth Olinsky über die Saiten huscht, als wären Eric Clapton an jeder Hand drei zusätzliche Finger gewachsen.

Momente anarchischer Wildheit wechseln mit sanften Folk-Passagen, zielloses Sampler-Gekruschel mutiert zu heidnischen Tanzritualen. Trotz permanenter Richtungswechsel überfordert einen der von allen Stilvorgaben erlöste Free Rock nicht, weil er auf soliden Songfundamenten ruht, die nach jeder Improvisation wieder auftauchen. Als Zugabe intonieren die drei Berserker, schweißgebadet,  noch einen blätterteigzarten A-Capella-Gospel, zu dem das Publikum einen brummenden „Love and Space“-Choral anstimmt. Zum Davonschweben schön. Seufz! Jörg Wunder

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