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Konzertkritik: Lee "Scratch" Perry: Ich rolle meinen Koffer durch Berlin

Im Haus der Kulturen der Welt überzeugt der Altmeister des Dub-Reggae zu den Beats von Adrian Sherwood mit tiefenentspannten Sprechgesangs-Meditationen

Der mutmaßliche Höhepunkt der diesjährigen „Wassermusik“-Konzertreihe im ausverkauften Haus der Kulturen der Welt wird von Musikdirektor Detlef Diederichsen enthusiastisch anmoderiert: „Zwei Magier, die den Produzentenberuf neu erfunden haben“, was kaum übertrieben ist.

Der eine, Lee „Scratch“ Perry, hat seit den späten Sechzigern auf ungezählten Platten den Schunkelrhythmus des Reggae durch Echokammern gejagt und daraus die instrumentalen Abstraktionen des Dub destilliert. Der andere, der Londoner Adrian Sherwood, hat gut zehn Jahre später die Dub-Radikalität mit moderner Studiotechnik noch weiter getrieben und wurde mit seinem Plattenlabel On-U Sound zum wichtigen Impulsgeber für die Pop-Avantgarde der Achtziger und Neunziger. Sherwood eröffnet das Konzert mit einem viertelstündigen Konzentrat aus den Festplattentiefen seines Laptops, das er live permanenten Verfremdungsprozessen unterzieht.

Dann kommt, mit einem flächendeckend beklebten Rollköfferchen im Schlepptau und einem Mikro in der üppig beringten Hand, der Meister höchstpersönlich auf die Bühne getänzelt: Lee „Scratch“ Perry ist eine der lebenden Legenden des Reggae, und dass er sich aus dem lärmenden Tagesgeschehen von Kingston Town schon vor Jahrzehnten zurückgezogen hat und in der schweizerischen Berggemeinde Einsiedeln lebt, hat diesen Status noch untermauert. Den bürstenhaarigen, faltigen Schädel des 73-jährigen schmücken stets exzentrische Kopfbedeckungen: heute eine mit Strassmedaillons, bunten Votivbildchen und einem pyramidenförmigen Prisma verzierte Kappe, auf deren Schirm mit Spiegelpailletten das Wort „God“ gebildet wird.

Die genretypische Rastareligiösität ist ein zentrales Thema in Perrys melodischem Sprechsingsang, aber irgendwie auch alles andere: Es geht um Sünde, Sterben, Regen, Berlin, Liebe, Michael Jackson, whatever. Dass man nicht allzu viel von dem meditativen Gemurmel versteht, mindert das Vergnügen nicht im Geringsten. Perry demonstriert die hohe Kunst der Lässigkeit. Wie er noch seine liebenswerte Schluffigkeit – er muss jedesmal auf der Setlist an Sherwoods Instrumentenpult nachschauen, was als nächstes Stück kommt – mit einem rhythmisierten „What next?“ zum Songinhalt adelt, wie er mit winzigen Hüpfern oder dem Lupfen der Mütze motorische Impulse an die Zuschauer weitergibt, hat Klasse.

Perrys Tiefenentspanntheit, für die Sherwood dezent groovende Riddims findet, überträgt sich auf‘s Publikum, dass sich in der tropenfeuchten Hitze in sanften Wiegebewegungen schaukelt. Nach 75 Minuten verabschiedet sich Perry leutselig mit vielen „Thank you“- und „Good Night“-Wünschen und schlappt samt Köfferchen von dannen. Draußen läuft man dann in einen warmen Regenvorhang – welch passender Abschluss für eine feine „Wassermusik“.

Jörg W, er

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