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Sonntagsinterview: „Ich schrie – und der Himmel öffnete sich“

Heute kann Joe Cocker nichts mehr schrecken – nur der Anblick eines Berglöwen

Mr. Cocker, auf Ihrer aktuellen Platte erzählen Sie von einem Lehrer namens „Mr. Life“. Was war die wichtigste Lektion, die er Ihnen beigebracht hat?

Wahrscheinlich diese: einen Fuß vor den anderen zu setzen. Und zwar jeden Tag. Ich habe die Schule schon mit 16 Jahren verlassen und nie eine Universität besucht. Stattdessen bin ich jede Nacht in den Clubs von Sheffield aufgetreten. Die Straße war meine Schule.

Auch der Titel Ihres Albums klingt brutal: „Hard Knocks“ – „Nackenschläge“. In welcher Phase Ihres Lebens haben Sie am meisten Prügel einstecken müssen?

Das war Mitte der 70er Jahre, als ich zum Alkoholiker wurde. Ich war damals förmlich entgleist – und wenn man in einer solchen Lage ist, ist es verdammt schwer, da wieder herauszukommen. Wenn man Musik macht, ist es auch sehr verlockend, immer noch einen draufzusetzen. Das habe ich gemacht, und ich habe es dabei eindeutig zu weit getrieben.

Können Sie eine typische Situation schildern, in der Sie zur Flasche griffen?

Wenn ich zum Beispiel ein Interview wie dieses hier geben sollte, war ich ein nervöses Wrack. Also tat ich, was viele Menschen tun: Ich trank, weil es mich beruhigt hat. Dazu habe ich nicht richtig gegessen, und dann leidet natürlich die Gesundheit. Wenn man in seinen frühen Dreißigern ist, glaubt man, man sei unbesiegbar. Ich dachte, dass ich mit allem fertig werde.

Sie gelten als Comeback-Kid: Sie sind – wie ein Boxer – schon oft angezählt worden, standen aber immer im letzten Augenblick wieder auf.

Ja, genau. Die Phase, in der ich die meisten Nackenschläge kassierte, war wohl die erste Hälfte meines Lebens. Als ich 1987 das Album „Unchain My Heart“ herausbrachte und damit einen Riesenerfolg hatte, war das für mich so etwas wie eine Wiedergeburt. Seit dieser Zeit hatte ich keine ernsthaften Rückschläge mehr.

Ray Charles, der den Song „Unchain My Heart“ zum Hit gemacht hatte, gehörte zu Ihren Idolen. Erinnern Sie sich noch, wann Sie zum ersten Mal ein Stück von ihm gehört haben?

1959, da war ich 15. Ray brachte „What’d I Say“ raus. Als ich das im Radio hörte, dachte ich zuerst, da singt ein zweiter Little Richard, so ein Shouter. Aber dann entdeckte ich seine B-Seiten. Und auf einmal wurde Ray Charles Gott für mich. Meine Freunde dachten allerdings, ich hätte den Verstand verloren. Die hörten nämlich alle nur Chuck Berry und Jerry Lee Lewis! Ich dagegen habe Stunden im stillen Kämmerlein damit zugebracht, Ray Charles’ Phrasierung in mich aufzusaugen.

Später wurde er Ihr Mentor.

Sie können sich nicht vorstellen, wie aufgeregt ich war, als ich ihn Jahre später getroffen habe. Wir haben ein Duett gesungen, „You’re So Beautiful“. Es gibt diesen überlieferten Dialog von Ray mit irgendeinem Fan, der ihn fragt: „Wer ist dein größter Fan, Ray?“ Und er antwortet angeblich: „Joe Cocker.“ Er muss wirklich viel von mir gehört haben. Als ich also hinter die Bühne ging, um ihn zu treffen, fühlte ich mich wie ein Schuljunge. Er konnte fast sehen, wie nervös ich war. Naja, spüren, meine ich.

Gab es eine alles verändernde Frage, die Sie ihm nun endlich stellen … warum lachen Sie?

Weil es da tatsächlich was gab! Auf einem seiner Livealben habe ich gehört, wie er so rätselhafte Nummern schreit: „2-19“ oder „1-27“. Und ich hatte mich immer schon gefragt: Warum um alles in Welt macht er das? Ich dachte zuerst, das sei möglicherweise einfach eine Zeitangabe. Ich fragte: „Ray, was soll das?“ Er sagte: „Ich habe so viele Songs in so vielen Variationen in meinem Repertoire, ich kann der Band nicht einfach ,Georgia On My Mind’ oder ,I Can’t Stop Loving You’ vorgeben. Also habe ich sie mir nach Nummern eingeprägt.“

Wie die Speisekarte beim Chinesen.

Genau. Ray schrie einfach die Band an: „2-19!!“

Das haben Sie sich doch nicht etwa auch abgeschaut?

Nein, nein, ich habe ja nur etwa 100 Songs, die ich auswendig können muss. Aber da ist etwas anderes, das ich von Ray gelernt habe: den Falsett-Schrei! Für mich ist er heute noch eine Befreiung. Wenn du auf der Bühne ein Set von etwa zwei Stunden spielst, baut sich über diese Zeit ziemlich viel Energie auf. Das ist schwer zu beschreiben: Wenn es auf das große Finale zugeht, atme ich anders, alles verliert die Konturen und fängt irgendwie an, sich aufzulösen.

Der Background-Chor singt: „Do you need anybody?“ Und Ihr sekundenlanger Schrei mündet in …

I need someone to love! Auch im Studio brauche ich das. Zum ersten Mal habe ich den Schrei aufgenommen, als ich „With A Little Help From My Friends“ einspielte. Der endgültigen Version gingen etwa 14 Versuche voraus, die Anspannung brach sich dann in diesem Schrei Bahn. Ich habe nie verstanden, wie Ray das angestellt hat – und ganz plötzlich löste sich die Spannung auch in mir. Ungeplant, total spontan! Jetzt ist dieser Schrei so etwas wie mein Markenzeichen geworden.

Sie stehen in einer großen Tradition. Shouter gab es viele, zum Beispiel Screamin’ Jay Hawkings …

… und die Dixie Hummingbirds und die Swan Silvertones – Bands, an denen Ray sich orientiert hatte. Es ging um die Verschmelzung von Blues und Gospel, von Pop-Lyrics mit Kirchenmusik.

Sie haben mit Tony Brown zusammengearbeitet, der war Elvis Presleys Pianist. Mochten Sie Elvis?

Jedes Kind, das in den Sixties aufwuchs, liebte Elvis! Die gekräuselte Lippe, er war der perfekte Balladen-Sänger.

Er hatte aber eine viel sanftere Stimme als Sie.

Wirklich? Hört mal genau hin: Are you lone-some to-night …

Nicht schlecht! Wir nehmen alles zurück.

Von Elvis habe ich gelernt, Zärtlichkeit in die Stimme zu legen. Es fängt ja immer alles als Imitation an, bevor du deinen eigenen Stil entwickelst.

Haben Sie Elvis mal getroffen?

Nein, leider nie. Aber ich habe ihn auf der Bühne erlebt, Anfang der 70er Jahre, als er sich in Las Vegas mit Tom Jones einen Konkurrenzkampf darüber lieferte, wer der größte Entertainer sei und den meisten Sexappeal habe. Was den ersten Teil der Frage angeht, ist die Antwort klar: Der größte Entertainer dieses Planeten war Elvis.

Mr. Cocker, Sie leben mit Ihrer Frau auf einer Farm in Crawford, Colorado.

Nein, das ist eine Ranch!

Was ist der Unterschied?

Eine Ranch ist größer als eine Farm. Wir haben uns 80 Hektar geleistet, als der amerikanische Immobilienmarkt am Boden war. Wir hatten sogar mal afrikanische Rinder. Erst waren es acht, dann 16, dann 32. Diese Rindersache wuchs uns über den Kopf, deshalb mussten wir uns von den Tieren trennen. Aber auch ohne Vieh ist die Ranch traumhaft. Ich liebe die Natur und genieße es immer wieder, nach einer Tour dorthin zurückzukommen. Da haben wir ein Funkloch, dafür empfangen wir tolle Vintage-Blues-Radiostationen. Ich höre eigentlich immer Blues-Radio. Und dort leben Bären und Berglöwen.

Sie gehen dort gerne alleine spazieren, um auf neue Ideen zu kommen, heißt es. Haben Sie keine Angst vor wilden Tieren?

Na ja, ich wundere mich langsam selbst, wie lange ich damit noch durchkomme. Klopf auf Holz! Vor ungefähr zwei Jahren ging ich mal mit den Hunden raus, und zehn, zwölf Meter vor mir kam ein Bär aus dem Dickicht. Er sah mich an, drehte sich wieder um und trollte sich.

Sie hatten hoffentlich nichts zu essen dabei?

Doch, Hundekekse! Es war gar nicht so schlimm. Es war ja keine Bärenfrau mit ihren Jungen. Richtig Angst habe ich eigentlich nur vor den Berglöwen. Diese Biester sind zwar wahrhaft wunderschöne Kreaturen, bloß: Im Winter, wenn sie nichts zu fressen finden und hungrig sind, können sie dich auch attackieren. Das musst du akzeptieren, wenn du in der Wildnis lebst. Um unsere Ranch liegen 30 000 Hektar wildes Land – wir leben etwa 100 Meilen von dem Ski-Ort Aspen entfernt, wo viele Touristen hinfahren. Bei uns gibt es den Black Canyon und den Gunnison River, einen Nebenfluss des Colorado, wo ich von Zeit zu Zeit die Angel auswerfe.

Auf was angeln Sie?

Wir bleiben meist ein paar Nächte draußen und sind auf Forellen aus. Ich bezahle meinem Guide manchmal ein bisschen mehr, damit er mir ganz genau erklärt, wo es sich lohnt, die Angel auszuwerfen. „Catch and release“ – fangen und wieder frei lassen. Nur vier Fische darf man mitnehmen. Fliegenfischen – das ist die totale Einsamkeit, nur alle Jubeljahre begegnet man einem anderen Kajak.

Und wenn Sie dann trotzdem einen Fremden treffen: Werden Sie als Weltstar erkannt, oder sind Sie dann nur ein weiterer Anglerkollege?

Beides. Wissen Sie, man darf sich dort ja nicht einfach in den Wald erleichtern, das ist verboten, es soll alles ursprünglich bleiben. Und deswegen muss man Minitoiletten mitbringen, das sind so kleine Metallboxen. Eines Morgens wache ich also um sechs Uhr auf, suche das Ding, genieße währenddessen den Blick über den Wald und auf den Fluss. Da kommt so ein Typ vorbei und grüßt mich freundlich: „Hey, guten Morgen, Joe!“

Auf dem Cover Ihres Albums sitzen Sie bequemer: in einem alten, verrosteten Auto. Welches Modell ist das?

Ein alter Porsche, so einen wollte ich früher immer haben. Es reichte aber nur für einen Ford Konsul, bei dem ich direkt vom ersten in den dritten Gang schalten musste.

Sind Sie in so einem Auto 1969 nach Woodstock gefahren?

Nein, Gott bewahre. Das war so: Wir saßen in Connecticut fest, näher kamen wir nicht an das Festivalgelände ran. Alle Straßen waren verstopft mit Menschen. Und dann ist meine Band mit einem Militärhubschrauber eingeflogen worden, und ich hinterher, mit einem kleinen totalverglasten „Bubble“-Helikopter. Sie können sich nicht vorstellen, wie dieser Anblick von oben war. Zwei Jahre zuvor bestand die größte Menge, vor der ich gesungen hatte, aus 200 Menschen. Und jetzt, 1969 in Woodstock, waren es auf einmal 400 000. Das war für einen Jungen aus Sheffield umwerfend. Als ich aus dem Helikopter schaute, sah ich unter mir Köpfe, Köpfe, Köpfe. Ich hatte richtig Angst. Es war wie in diesem Film „Zulu“ mit Michael Caine, wo Tausende Zulus die Briten platt machen.

Wo genau sind Sie gelandet?

Direkt hinter der Bühne. Ich hatte immer noch keine Ahnung, ob wir das überhaupt durchstehen würden. Als ich aus dem Hubschrauber stieg, schrie irgendein Band-Mitglied: „Wir sind bereit, Joe!“ Und ich sprang sofort die paar Stufen zur Bühne hoch und startete mit „Feelin’ Alright“.

Wenn man sich die Aufnahmen Ihres Auftritts anschaut, ahnt man nicht, dass Sie das exakte Gegenteil gefühlt haben.

Es war wirklich schwierig. Wenn du vor einem großen Publikum spielst, wird normalerweise jeder nach einer Weile mitgerissen. Aber die Menge in Woodstock war so groß, und alle waren sie mit etwas anderem beschäftigt: mit Essen, mit Love und mit Peace. Nach der Hälfte des Sets spielte ich „Let’s Get Stoned“, und endlich wurden wir beachtet. Ich erinnere mich noch, wie am Ende irgendein Typ rief: „Joe, guck dich mal um!“

Und dann?

Dann sah ich direkt hinter mir diese gigantische schwarze Regenwolke. Wir waren gerade fertig. Unser letzter Song war „Little Help“, ich hatte gerade meinen berühmten Schrei losgelassen. Und dann öffnete sich der Himmel, und es hörte stundenlang nicht mehr auf zu regnen. Meine Band war vollgepumpt mit LSD, die flog regelrecht. Für die war es ein mystisches Erlebnis. Ich war clean, in Sheffield hatte ich bis dahin nichts Härteres als Alkohol oder Joints probiert. Für mich war es einfach nur Regen – gefährlicher Regen noch dazu. Sie möchten nicht E-Gitarre spielen und dabei nass werden.

In Sheffield passiert in letzter Zeit musikalisch gesehen viel. Waren Sie noch mal in Ihrer alten Heimat?

Es war immer schwierig für mich, nach Sheffield zu fahren. Ich bin eigentlich nur hingefahren, um meine Eltern zu sehen, aber sie leben nicht mehr. Für mich waren das nie gute Reisen. Es gibt in Sheffield einfach zu viele meiner alten Trinkkumpane: „Ach komm schon Joe, einer geht doch!“ Es ist nicht leicht für mich, in Sheffield zu sein, ohne in diese Welt hineingezogen zu werden. Sie sagten, da tut sich viel, was denn? Ich kenne nur Human League.

Die Arctic Monkeys kommen zum Beispiel aus Ihrer Heimatstadt.

Äh, sind die nicht nur eine Eintagsfliege? Nein? Ich muss zugeben, ich bin etwas draußen, was aktuelle britische Popmusik betrifft.

Mr. Cocker, am Ende würden wir gerne über zwei Legenden reden, die über Sie im Umlauf sind.

Okay.

Stimmt es, dass Sie 1970 nach Ihrer berühmt-berüchtigten „Mad Dogs & Englishmen“-Tournee eine Hose mit einem 100 000-Dollar-Scheck in der Tasche in die Waschmaschine gesteckt haben?

Ja, das ist leider wahr. Ich kam nach dieser Mammuttour völlig erschöpft aus Amerika zurück nach Sheffield. Dann traf der Scheck mit meiner Gage in einem Brief ein. Ich habe ihn in meine Jeans gesteckt, aber meine Mutter hat die dann in unserer Maschine gewaschen. Der Scheck war natürlich hinüber. Ich habe mich auch nicht darum bemüht, einen Ersatzscheck zu bekommen. 100 000 Dollar! Hätte ich sie vernünftig angelegt, wären das heute Millionen! Das sind Sachen, die dir passieren, wenn du auf Drogen bist. Alles andere ist dir dann egal. Und, was ist die andere Legende? Ich bin schon gespannt.

Sie sollen einmal volltrunken und nackt auf einem Motorrad in einer Hotelhalle die Treppe hochgebrettert sein.

Das stimmt nicht! Ich meine, daran würde selbst ich mich erinnern.

Wirklich? Aber eines Ihre berühmtesten Zitate lautet doch: „Ich habe das komplette Jahr 1977 vergessen.“

Na gut, ich beweise es Ihnen: Ich habe nicht mal einen Motorradführerschein.

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