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Scheu. Ville Haimala und Martti Kalliala alias Amnesia Scanner zeigen sich ungern, aber irgendwo in dem Pulk stecken sie.

© S. Fujiwara

Porträt des Elektro-Duos: Amnesia Scanner, die Raumklangbaumeister

Das finnische Duo Amnesia Scanner produziert abstrakten Avantgarde-Pop. Jetzt spielen die Wahlberliner im Berghain. Eine Begegnung.

Eine graue Steilkurve am Rande der Rennstrecke. Ein blauer Wagen rast auf sie zu. Übermenschliche Stimmen erklingen über dem Asphalt. Der Wagen gerät ins Trudeln, taumelt. Dazu erhebt sich ein Fanfaren-Chor, ein schwerer Basston schiebt sich nach vorne. Der Wagen schleudert, überschlägt sich und beginnt zu tanzen wie ein springender Kreisel.

Die Szene stammt aus dem Video zum Song „AS Too Wrong“ des Elektro-Duos Amnesia Scanner. Wer will, kann es als Analogie auf turbulente Zeiten lesen. Dabei bilden die knapp 35 Minuten ihres kürzlich veröffentlichten Debütalbums „Another Life“ eine so einzigartige und verzerrte Gegenwartsspiegelung, wie sie vermutlich nur zwei im Berliner Exil lebende Finnen aushecken konnten.

Zum Gespräch laden die beiden bisher äußerst öffentlichkeitsscheuen Mittdreißiger, die sich auf ihren Promofotos eher verstecken als zeigen, in eine Kreuzberger Wohnung. Von Haus aus Architekten, lernten sich Ville Haimala und Martti Kalliala bei der Planung eines Clubs in Helsinki kennen und produzierten eine Weile gemeinsam Techno unter dem Namen Renaissance Man. Mit Amnesia Scanner verfolgen sie ein größeres Projekt. Ihr Ziel sei die Erschaffung einer neuen Welt, sagen sie. Diese scheint irgendwo zwischen Hysterie und künstlich verabreichter Transzendenz angesiedelt zu sein, zwischen Paranoia und einer dunklen, schmerzhaften Euphorie.

Die Klänge stammen aus Soundtrack-Programmen

Zunutze machen sie sich dabei Elemente aus dem Erfahrungsschatz der elektronischen Tanzmusik, sowie eine Vielzahl ungeheuer plastischer Soundeffekte. Die erinnern mal an in Zeitlupe zerschlagenes Kristallglas und mal an vibrierende, kilometerlange Seile. „Diese Klänge stammen von Programmen, die ursprünglich für Hollywoodsoundtracks entwickelt wurden“, erläutert Martti Kalliala. „Diese hyperreale Klangsprache ist uns aus dem Kino schon sehr vertraut. Vor etwa fünf oder sechs Jahren begannen wir und andere, diese Sounds zu manipulieren und in Clubkontexte zu bringen.“

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Amnesia Scanner entstammen der experimentellen Elektronikszene, die sich in der letzten Dekade hierzulande um Festivals wie CTM und Labels wie PAN gebildet hat. Trotz oft mäßigem kommerziellem Erfolg profitiert doch eine Reihe junger Musikerinnen und Musiker enorm von der Zugehörigkeit zu dieser Szene. Eine neue Clubmusik, deren Sound gern als „dekonstruiert“ oder „polyrhythmisch“ beschworen wird, gilt seither als Avantgarde und anschlussfähig an die ambitionierten Konzepte einer transmedialen bildenden Kunst.

Nun lässt sich das alles auch von Amnesia Scanner behaupten, und doch ist in ihrem Fall einiges anders. Zum einen haben sie in den letzten Jahren versucht, sich gängigen Vermarktungsstrategien zu entziehen. Die Interviews zum neuen Album sind für sie die ersten überhaupt. Im Netz gab es nur bruchstückhafte Informationen, ein paar Videos, Mixtapes. Anfangs war ihr Sound abstrakter und rhythmischer, Referenzen zu angloamerikanischen Straßen- und Clubgenres wie Trap oder Grime waren offensichtlicher als auf ihrem Albumdebüt. Über die Jahre mutierte Amnesia Scanner zur virtuellen Persona mit scheinbarem Eigenleben, bald kamen Live-Performances und Kollaborationen, wie mit der Rapper*in Mykki Blanco und der Multimedia-Künstlerin Holly Herndon, dazu.

Ihr Sound ist zugänglicher geworden

„Für das Album haben wir versucht, unsere Klangwelt der letzten Jahre in eine Popmusik-Form zu gießen“, so Ville Haimala. Dass das gelungen ist – der Sound auf „Another Life“ ist einheitlicher geworden, eingängiger und voller betörender Melodik – liegt nicht zuletzt an den Gästen. Labelkollegin Pan Daijing steuert auf zwei Stücken ihre Stimme bei. In „AS Chaos“ rappt sie über Eurodance-Synthesizer und Gunshot-Samples. „All around me it’s just chaos“, heißt es dort abwechselnd auf Chinesisch und Englisch. Haimala erklärt, dass ihnen Blogs von Überlebensfreaks als Inspiration dienten, die sich mit riesigen Konservenvorräten und selbstgebauten Bunkeranlagen auf den Tag des Jüngsten Gerichts vorbereiten.

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Auf „Another Life“ hat die Sampling- und Collagewut des Duos spürbar abgenommen. Das neue Gravitationszentrum bildet Oracle, eine computergenerierte Singstimme. „Wir wollten etwas haben, dessen Klangfarbe sofort mit uns identifiziert wird, mit einem Wiedererkennungswert wie bei Kurt Cobain.“ Nun besitzt Oracle mehr als das fünffache Oktavenvolumen des Nirvana-Sängers und klingt eher wie ein uneheliches Kind der Autotune-Technologie. Und doch ist – wie bei jeder guten Band – die Identität von Amnesia Scanner maßgeblich durch den Gesang geprägt.

Rave-Eskapaden und post-industrieller Krach

Haben also Künstliche-Intelligenz-Systeme zur Entstehung ihrer Musik beigetragen? „Es kommt darauf an, was man darunter versteht“, entgegnet Kalliala. „Im Moment scheint es einen Wettlauf darum zu geben, wer das erste richtige KI-Album rausbringt.“ Dabei seien die Ergebnisse oft nicht der Rede wert. Was nicht heißt, dass sich das Werk der beiden Zukunftsfragen verschließen würde. So ist im Videoclip zu „AS Crust“ ein Roboterhund zu sehen, der wieder und wieder von Menschen zu Boden getreten wird. Der Anblick ist lustig und traurig zugleich. Die Musik von Amnesia Scanner wirft immer wieder die Frage auf: Was passiert im digitalen Maschinenzeitalter mit unseren Gefühlen?

Dies spiegeln auch die Live-Performances des Duos, in dem sich Rave-Eskapaden, post-industrieller Krach und ultranervöse Raumbeleuchtung zu einem beinah erhabenen Gesamtkunstwerk vermengen. „Wir streben einen Punkt an, an dem nicht wir, sondern der Raum als Ganzes zum Performer wird.“ Dabei orientieren sie sich an den sogenannten Endshows großer Techno-Festivals. Das sind perfekt durchgeplante Mega-Rituale – pyrotechnisch auf höchstem Niveau –, die die Grenze zwischen Bombast und Weltuntergang einreißen wollen. Amnesia Scanner erkennen und zelebrieren diesen Widerspruch. Nur soll es diesmal keine Erlösung geben.

„Another Life“ ist bei PAN erschienen. Amnesia Scanner treten am 20. Oktober um 4.15 Uhr bei der Label-Nacht von PAN im Berghain auf.

Frederic Jage-Bowler

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