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© Berlinale

Porträt: Unter dem Sack, das ist ein Mensch

Der amerikanische Dokumentarfilmer Errol Morris ist derzeit einer der berühmtesten Regisseure der Welt. Sein Film "Standard Operating Procedure" über Abu Ghraib, die Macht der Kamera und die Würde der Opfer feiert bei der Berlinale seine Weltpremiere.

Die Idee mit der Wette stammte von Werner Herzog. Damals, Mitte der Siebziger, war Errol Morris einer seiner Studenten im kalifornischen Berkeley. Sollte es diesem begabten Typen endlich gelingen, seinen ersten Film auf die Beine zu stellen, dann „esse ich meinen Schuh“, versprach der Münchner Autorenfilmer.

Als Morris’ Debüt „Gates of Heaven“, eine Dokumentation über Tierfriedhöfe, 1978 fertig wurde, kochte Herzog seine Boots mit reichlich Gemüse und aß die Schuhe vor den Augen der Premierenzuschauer. Sein Freund Les Blank hielt die ungewöhnliche Ermutigung unabhängiger Filmemacher mit der Kamera fest. „Werner Herzog eats his shoe“ heißt sein 20-minütiger Dokumentarfilm.

Nun sitzt Errol Morris – der neben Michael Moore derzeit berühmteste, mit einem Oscar ausgezeichnete US-Dokumentarist – im Ritz-Carlton am Potsdamer Platz. Große, kräftige Gestalt, beiges Hemd, blaue Stoffschuhe, am Sonntagabend ist der 59-Jährige aus Cambridge, Massachusetts angereist, um auf der Berlinale „Standard Operating Procedure“ zu präsentieren, seine Filmrecherche über den Folterskandal von Abu Ghraib. Die Interviewzeit ist knapp, Errol Morris drosselt trotzdem das Tempo, denkt nach, konzentriert sich. Er schielt ein wenig, wegen der Müdigkeit, sagt er. Nein, dass er sich seit 30 Jahren obsessiv mit Wahrnehmung beschäftigt, hat nichts mit seinen Augen zu tun. Eher damit, dass Bilder dazu neigen, ihren Betrachter auszutricksen.

Die Fotos von Abu Ghraib

Der Film hat drei entscheidende Zutaten: Erstens die Fotos, die um die Welt gingen. Ich habe sie in keiner Weise manipuliert, außer dass ich einen weißen Rand hinzugefügt habe. Dieser Rand weist den Zuschauer darauf hin, dass er keine Ausschnitte sieht, sondern immer das ganze, unveränderte Bild. Die Fotos waren die zentralen Beweisstücke für das Unrecht, das im Herbst 2003 den Gefangenen von Abu Ghraib zugefügt wurde.

Die Interviews

Die zweite Zutat sind die Interviews mit denen, die man auf den Fotos sieht oder die sie gemacht haben, mit Lynndie England, Sabrina Harman und anderen. Sie teilen nichts Vorgestanztes mit, sondern erzählen, was ihnen durch den Kopf geht.

Die nachgestellten Szenen

Was geschieht, wenn ich mich der Geschichte über eine Fotografie nähere? Ein Foto kann einen historischen Augenblick festhalten, aber was genau schildert es eigentlich? Fotos halten die Zeit an. Die nachgestellten Szenen als dritter Bestandteil des Films umkreisen diesen Zeitpunkt und ziehen den Zuschauer in die stillgestellte Zeit hinein. Ich möchte, dass das Publikum den Bildern misstraut. Es ist ja nicht nur das geschehen, was die Fotos zeigen. Weder die Linke, noch die Rechte, noch die politische Mitte in den USA – falls es sie überhaupt noch gibt – hat die ganze Wahrheit von Abu Ghraib zum Thema gemacht oder das, was Abu Ghraib über unsere Werte und Interessen verrät. Selbst Seymour Hersh konzentrierte sich in seiner Reportage in der „New York Times“ auf das Offensichtliche der Bilder. Ja, sie sind offensichtlich, aber es gibt auch etwas zutiefst Mysteriöses darin, vor allem bei den berühmtesten Fotos, dem von Lynndie England mit dem Gefangenen an der Hundeleine und dem vom Gefangenen auf der Kiste mit einem Sack über dem Kopf.

Die Macht der Kamera

Ein Teil des Geheimnisses liegt darin begründet, dass die Bilder ohne die Kamera nicht existieren würden. Die Soldaten posieren, setzen die Gefangenen für die Kamera in Szene und komponieren Tableaux vivants, die bewusst oder unbewusst vorhandene Ikonografien zitieren. Das sind keine Schnappschüsse.

Die Sexualisierung des Krieges

Der Gefangene auf dem Bild mit der Hundeleine war in Hungerstreik getreten, künstlich ernährt worden, aus irgendeinem Grund mussten sie ihn aus seiner Zelle schaffen, Lynndie England wurde von ihrem Freund Charles Graner gebeten, ihn an der Leine zu halten. Und Graner machte das Foto, das eine bizarre Wahrheit festhält: die sexuelle Erniedrigung als ein Wesenszug des Irakkriegs. Die Tatsache, dass Frauen in der Armee dienen, wurde im Irak pervertiert. Frauen wurden benutzt, um Männer in ihrer Nacktheit zu beschämen. Das Lager von Abu Ghraib, in dem so ziemlich jede Regel der Genfer Konvention verletzt wurde, ist wie ein Spiegelkabinett, mit einer Bilderkette von Degradierungen: Ein US-Soldat domestiziert seine blutjunge, puppenhaften Freundin, die wiederum einen Araber domestiziert – und am Ende sieht sich die gesamte Nation wegen der Fotos gedemütigt, vor den Augen der Welt. Weshalb wiederum die Soldaten auf den Fotos degradiert werden müssen. Dass die einfachen Soldaten, die den Schandfleck des Krieges tragen, für den gesamten Krieg geradestehen müssen, ärgert mich sehr. Die anderen kommen ungeschoren davon.

Die Würde der Gefangenen

Weder den Mann auf der Kiste, noch den an der Hundeleine habe ich finden können. Wir haben in Bagdad geforscht, Zeit und Geld investiert, vergeblich. Vielleicht leben sie nicht mehr. Ich habe andere Gefangene interviewt, wollte den Fokus aber auf die Protagonisten der Fotos richten. Am Schluss kann man einige Gesichter der Gefangenen identifizieren. Die Frage ihrer Würde ist eine der heikelsten moralischen Fragen überhaupt. Ich mag es nicht, wenn die Opfer völlig depersonalisiert sind. Es ist sehr, sehr wichtig, daran erinnert zu werden: Auf der Kiste, unter dem Sack, das ist ein Mensch. Wenn ich das Gesicht zeige, ist das immer beides: Ich dringe in die Privatsphäre ein, das ist entwürdigend. Aber ich betone gleichzeitig, dass die geschundenen Opfer Menschen sind, gewöhnlich und zu großen Teilen unschuldige Menschen. Deshalb ist es mir Recht, wenn der Anblick der Gesichter den Zuschauer verstört.

Bilder, die die Welt verändern

Dokumentarfilme bilden die Wirklichkeit nicht ab. Sie haben aber eine enge, komplizierte Beziehung zu ihr. Und sie können die Welt verändern. Deshalb ist es unsere Pflicht, uns damit zu befassen, was sie uns vermeintlich zeigen und welchen Kontext wir hinzufügen: Damit wir den Bildern nicht ausgeliefert sind. Von Abu Ghraib lernen wir auch: George W. Bush ist nicht an allem schuld. In „The Fog of War“ habe ich die Kriegsverantwortung eines hochrangigen Politikers thematisiert, in „Standard Operating Procedure“ geht es um die Verantwortung einfacher Gefreiter.

Aufgezeichnet von Christiane Peitz.

Errol Morris, 1948 auf Long Island geboren, studierte Cello und Philosophie, bevor er mit dem Filmemachen begann. Neben seinen Kinowerken – The Thin Blue Line, A Brief History Of Time oder der Oscar-prämierte The Fog of War (2003) – dreht er eigenwillige Werbespots, u.a. für John Kerry bei der Präsidentschaftswahl 2004.

Seine Website www.errolmorris.com versammelt Infos zu seinen zahlreichen Aktivitäten und Projekten. So erforscht Morris in seinem Blog bei der „New York Times“ anhand eines Fotos von 1855 minutiös die Manipulation und Wahrnehmung von Kriegsfotografie.

Sein Dokumentarfilm Standard Operating Procedure über den Folterskanal von Abu Ghraib, feiert heute um 22.30 Uhr Weltpremiere im Berlinale-Palast.

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