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Mr. Zuckerbrot und Peitsche. Otto von Bismarck.

© Axel Heimken/dpa

„Postheroische Demokratiegeschichte“: Ein neuer Blick auf die Entstehung des deutschen Parlaments

Historikerin Ute Daniel schaut in ihrem Buch „Postheroische Demokratiegeschichte“, wie sich im 19. Jhdt. in Deutschland das Parlament entwickelt. Eine Wohltat.

In Zeiten, in denen eine Demokratiehistorikerin die Quarantäne zum „Hochamt der Demokratie“ erklärt, wo doch bislang Wahlen als solches galten, ist es eine Wohltat, ein so sachlich nüchternes, vom Pathos freies Buch zur Hand zur nehmen, wie jenes von Ute Daniel. Auf seinem Titel verspricht es eine „Postheroische Demokratiegeschichte“.

Das ist ein gewaltiges Unterfangen für nur gut einhundertfünfzig kleinformatige Schriftseiten. Doch bald klärt die Autorin, Professorin für Neuere Geschichte an der TU Braunschweig, auf, dass es sich bei der Arbeit eigentlich um eine Spezialstudie handelt, die die Entwicklung der parlamentarischen Demokratie vor und nach einem „Kipppunkt“ 1866/67 im Deutschen Reich und Vereinigten Königreich darstellt.

Konkreter stehen Wahlrechtserweiterungen und deren Durch- und Zielsetzung in beiden Monarchien im Mittelpunkt. Das erfrischend geschriebene Bändchen macht mit der keineswegs überall ungeteilten Auffassung auf, man könne aus der Geschichte lernen: „…vorausgesetzt, man will es.“

Eingangs wird die Entwicklung der parlamentarischen Demokratie mit einem Frosch verglichen, der so lange in der Milch strampelt, bis sie zu Butter geworden ist. Der unkonventionelle Zugriff auf das Thema wird auch an der dreiteiligen Gliederung deutlich, die nicht klassisch chronologisch ist.

Am Anfang stehen die „Kipppunkte“, ein Terminus den die Autorin mit Verweis auf die Klimaforschung übernimmt: In Preußen war dies Anfang 1866 die Ankündigung von Ministerpräsident Bismarck im Norddeutschen Bund, ein allgemeines Wahlrecht einzuführen und ein zentrales Parlament zu schaffen. In Großbritannien erfolgte im Jahr darauf eine Wahlrechtserweiterung auf Initiative der konservativen Minderheitsregierung von Edward Smith-Stanley (1799-1869).

Man wollte die Parlamente gar nicht stärken

In beiden Fällen waren es also konservative Politiker, die mit der Ausweitung des Wahlrechts, eigentlich nicht das Parlament und seine Parteien stärken, sondern ihre eigene Regierungsfähigkeit stabilisieren wollten.

Mit aus ihrer Sicht unerwünschten Folgen: Bismarck stand plötzlich starken Fraktionen aus katholischem Zentrum und aus Sozialdemokraten gegenüber, Smith-Stanley verstärkte ungewollt die Abhängigkeit der Regierung von den Wahlergebnissen im Unterhaus.

[Ute Daniel: Postheroische Demokratiegeschichte. Hamburger Edition: Hamburg 2020, 166 Seiten, 12 €.]

„Alles in allem waren es also auf unterschiedlichen Ebenen defensive Gründe, die in Deutschland Verfassungen und Landtage mehr und mehr zum Normalfall machten. Ein großes Ja zur Parlamentarisierung stand nicht dahinter“, fasst Daniel diese Entwicklungen prägnant zusammen.

Auch Daniel kennt Helden

Im Kapitel „Davor“ erläutert die Autorin den seit Anfang des 19. Jahrhunderts unternommenen Versuch der politischen Eliten beider Länder, Antworten auf die Frage zu suchen, wie man mit Parlamenten regieren kann.

Manchmal fallen Daniels Erklärungen für die Entwicklungen ziemlich unbefriedigend aus, etwa dann wenn es über Veränderungen im britischen Wahlsystem im 19. Jahrhundert heißt: „Sie passierten einfach, im Lauf der Zeit.“

Und trotz ihres postheroischen Anspruchs kennt auch die Darstellung von Daniel Helden, etwa den Bismarck-Widersacher und Zentrums-Politiker Ludwig Windthorst, wie im Kapitel „Danach“ deutlich wird.

Darin werden die Folgen der Reformen behandelt, darunter die Wahl zu einem der ersten gesamtdeutschen Parlamente überhaupt im Februar 1868, dem sogenannten Zollparlament, das sich aus Abgeordneten des Norddeutschen Bundes und der süddeutschen Staaten zusammensetzte.

Die Demokratie ist das populistischste aller Systeme

Besonders interessant wird es, wenn Daniel in ihrer „Nachbemerkung“ aus ihrem historischen Gegenstand Schlüsse für die Gegenwart zieht, der sie eine „Verparteilichung des politischen Betriebes“ diagnostiziert, in dem sich Partei- und Regierungslogiken immer wieder entgegenstehen. Wenig überraschend schlägt sie hier eine aktivere Bürgerbeteiligung vor, etwa Bürgerversammlungen nach irischem und direktdemokratische Elemente nach Schweizer Vorbild.

Es sind auf den ersten Blick irritierende Sätze wie „Das populistischste aller jemals ersonnenen Systeme ist die Demokratie“, die Daniels Buch unbedingt lesenswert machen, weil sie den akademischen Leser aus seiner diskursiven Komfortzone hervorlocken.

Ihr Schlussbefund erscheint, angesichts des schon jahrelang anhaltenden parlamentarischen Unvermögens einen tragfähigen Kompromiss für eine Wahlrechtsreform des Bundestages zu finden, allzu optimistisch: „Das parlamentarische Regierungssystem ist durch Veränderungen der Praktiken entstanden. Durch Veränderungen der Praktiken kann es auch verbessert werden.“

René Schlott

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