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Ach wär ich auch so schwerelos! Veselina Handzhieva als Ballerina und Nadja Mchantaf als Cendrillon.

© Monika Rittershaus

Premiere an der Komischen Oper: Wunden gibt es immer wieder

Einfach Spitze: Generalmusikdirektor Henrik Nanasi und Regisseur Damiano Michieletto verzaubern ihr Publikum mit Jules Massenets „Cendrillon“.

Es kann so schnell gehen: Ein falscher Schritt, ein unglücklicher Sturz – und der Traum ist vorbei. Lucette war ganz nahe dran an der Primaballerina-Karriere. Jetzt liegt sie im Krankenhausbett, ihr Bein ist komplett geschient, jeder Schritt schmerzt. Und dazu noch die Schadenfreude der Stiefschwestern, die sich jetzt Chancen ausrechnen beim Casting für die Titelrolle in „Cinderella“.

In eine ziemlich heruntergekommene Ballettschule verlegt Regisseur Damiano Michieletto Jules Massenets „Aschenputtel“-Vertonung von 1899. Und spielt das Gedankenexperiment an der Komischen Oper hochvirtuos durch: Die Titelheldin, „Cendrillon“ im Französischen, wird durch ihre Verletzung zur Ausgestoßenen in einer Sportwelt, die auf Drill und Höchstleistung fixiert ist. Hier herrscht die böse Schwiegermutter als strenge Zuchtmeisterin, schikaniert beim Training an der Stange die Chorsolisten – die einmal mehr aufs Staunenswerteste beweisen, dass sie einfach alles spielen können.

Die Fee schleicht als Rentnerin herein

Der König tritt als windiger Impresario auf, dessen Sohn natürlich die Rolle des Märchenprinzen tanzen muss. Cendrillons Vater ist zum Hausmeister degradiert, die gute Fee schleicht als Rentnerin herein, die jede Menge Sternenstaub in ihrer Handtasche mit sich führt und gemeinsam mit ihren Stützstrumpf-Freundinnen dem verletzten Aschenputtel nicht nur die Beweglichkeit wiedergibt, sondern ihr auch zum standesgemäßen Tüll-Tutu verhilft.

Mit seinem Kunstgriff gelingt es Damiano Michieletto, aus dem altbekannten Märchenpersonal echte Menschen zu machen, Charaktere, deren Gefühle den Zuschauer wirklich interessieren. Mit Nadja Mchantaf als Lucette/Cendrillon und Karolina Gumos in der Hosenrolle des prince charmant hat der Regisseur aber auch zwei Darsteller zur Verfügung, die sich das Konzept rückhaltlos aneignen. Grandios, wie Karolina Gumos den Jüngling spielt, einen Hochbegabten, den das ganze Bohei um seine Person anekelt und der sich zu Beginn förmlich unter der Kapuze seines Hoodie verkriecht, bis er von Aschenputtel endlich emotional erweckt wird. Nadja Mchantaf, die ab der kommenden Saison zum festen Ensemble der Komischen Oper gehören wird, schont sich keine Sekunde, agiert mit vollem Körpereinsatz und singt dabei auch noch mit lodernder Intensität.

Eine Liebesgeschichte im Neonlicht ist das in Paolo Fantins schonungslos hässlichem Bühnenbild. Lediglich für den pas de deux im dritten Akt senken sich einmal gnädig bemalte Prospekte herab. Da wird die nüchterne Trainingshalle plötzlich zum Zauberwald, treten mit Veselina Handzhieva und Miguel Angel Collado zwei echte Tänzer hinzu, Fantasie-Doubles des gehandicapten Paares. In Sabine Franz’ klassischer Choreografie erzählen diese scheinbar aller Erdanziehungskraft enthobenen Wesen von jener künstlerischen Erfüllung, die Cendrillon und ihrem Prinzen verwehrt bleiben wird.

Endlich wird der Komponist Jules Massenet gewürdigt

Ein großer Abend ist hier gelungen, fern vom konventionellen „Cinderella“- Kitsch. Eine packende, heutige Deutung, die das Werk ernst nimmt, alle Bewegungen organisch aus dem Geist der Musik entwickelt. Und damit dem Komponisten Jules Massenet einen unschätzbaren Dienst erweist.

Bis zu seinem Tod 1912 war der Franzose ein Star, nicht allein in seiner Heimat, sondern weltweit. Der ungeheuer produktive Massenet lieferte den Soundtrack zur Belle Epoque, wurde gefeiert als musikalischer Frauenversteher, als Virtuose des schwül-sinnlichen Musiktheaters. Der Erste Weltkrieg aber fegte seine Ästhetik hinweg, die nachfolgenden Generationen straften den einst so Erfolgreichen mit Verachtung. Erst Ende der Siebzigerjahre wurde er wiederentdeckt, mittlerweile sind alle seine 23 Opern auf CD zu haben.

Von den Theatern aber wird er weiterhin stiefmütterlich behandelt. In Berlin waren in jüngerer Vergangenheit lediglich seine berühmtesten Werke zu sehen, „Werther“ und „Manon“. Dabei würden sich auch „Thais“ und „Don Quichotte“ lohnen, „Hérodiade“, „Sapho“, „Le Cid“, „La Navarraise“ oder „Esclarmonde“.

Stilistisch allerdings ist „Cendrillon“ für Orchester, die selten französisches Repertoire spielen und kaum mit den spezifischen Qualitäten dieser von Gounod über Massenet bis zu Debussy reichenden feinnervig-lyrischen Tradition vertraut sind, eine praktikable Partitur. Weil sie auch einem rustikaleren Zugriff standhält, wie jetzt dem von Henrik Nanasi, dem Generalmusikdirektor der Komischen Oper. Die geistreichen Parodien von Musikmoden des 18. Jahrhunderts, die Massenet mit vollendetem Handwerk für „Cendrillon“ geschaffen hat, funktionieren sogar am besten, wenn man sie richtig krachen lässt.

Spaß hat das Orchester der Komischen Oper auch am putzigen Instrument-Geklingel bei den Auftritten der Feen, wohingegen den zärtlichen Duetten zwischen Vater und Tochter deutlich etwas fehlt. Das Gespür für Massenets „atmende“ Melodien nämlich, die im Idealfall so schwerelos wirken wie eine Ballerina beim großen Solo. Werner Van Mechelen verschenkt die Chance, den vom Komponisten mit herrlich geschmeidigen Kantilenen ausgestatteten Pandolfe zu einer weiteren Identifikationsfigur zu machen, weil er mit zu viel Druck singt und deshalb poltrig wirkt.

Angemessen schrill sind Mirka Wagner und Zoe Kissa als fiese Stiefschwestern, gelehrig-grausame Töchter ihrer Mutter, der Agnes Zwierko die authentische, Furcht einflößende Autorität einer russischen Olympiatrainerin verleiht. Wie in den falschen Körper verbannt, wirkt schließlich die Stimme von Mari Eriksmoen. Wenn der Kehle dieses kunstvoll auf steinalt gestylten Mütterchens die betörendsten, glitzernden Koloraturen entströmen, dann ist das pure Magie.

Weitere Aufführungen am 16., 19., 26. und 29. Juni sowie am 10. Juli

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