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Von Opferverbänden kritisiert. Die Potsdamer Gedenkstätte im ehemaligen KGB-Gefängnis Leistikowstraße.

© Hagen Immel

Projekt Aufarbeitung: Wenn die Zeitzeugen gehen

Die Kluft zwischen Gedächtnis und Geschichte wird größer. Dass die Zeitzeugen immer älter werden und sterben, verändert die Grenzen der Erinnerung bei der Aufarbeitung der Vergangenheit, sei es der NS-Geschichte, sei es der Opfer des SED-Regimes. Und historisch ist nicht verbürgt, dass eine wache Erinnerungskultur mehr Zivilgesellschaft garantiert als das Vergessen. Ein Debattenbeitrag.

Das Projekt Vergangenheitsaufarbeitung begann für mich in den achtziger Jahren als Studienrat an einem Berliner Gymnasium. Draußen stand Isaak Behar, er wollte uns erzählen, wie er mit seiner Familie in Berlin die nationalsozialistische Judenverfolgung erlebt hatte. Dann stand Herr Behar im Klassenraum, und man hätte eine Stecknadel fallen hören können, als er zu jenem Tag im Dezember 1942 kam, an dem er wie immer aus der Schule nach Hause wanderte und die große Wohnung am Savignyplatz in Charlottenburg leer vorfand. Seine Eltern und Geschwister waren an diesem Vormittag aus der Wohnung zur Sammelstelle am S-Bahnhof Grunewald getrieben worden, um zur Vernichtung nach Auschwitz geschafft zu werden.

An dieser Stelle kamen Herrn Behar die Tränen, und uns kamen sie auch. Es war einer der kostbarsten Momente in meiner Lehrerlaufbahn. Wir hatten die Geschichte zurückerobert, aus dem Kartell des betretenen Schweigens befreit und den Zeitzeugen eine Stimme gegeben, die uns eindringlicher über die heillose Vergangenheit aufklärte, als es die Schulbücher taten.

Heute ist die Empathie für die Opfer des 20. Jahrhunderts und seiner diktatorischen Großordnungen umfassend, sie ist kultureller Konsens. Deutschland hat eine reiche Gedenkstättenlandschaft ausgebildet, die im Kanzleramt von gleich mehreren Referaten betreut wird. Eine Fachkommission aus Historikern und Gedenkstättenspezialisten berät den Kulturstaatsminister jährlich bei der Vergabe von Projektmitteln zur Aufarbeitung in Millionenhöhe. Zeitzeugen prägen die Auseinandersetzung mit den Lasten der Vergangenheit, die Aura ihrer Authentizität schlägt mehr Menschen in Bann als je zuvor. Der Geschichtstourismus ist eine kommunale Haupteinnahmequelle, Public History zu einem Studienfach geworden; diktatorische Schreckensorte wie die Gedenkstätte Hohenschönhausen zählen Millionen von Besuchern, Verfilmungen wie „Der Untergang“ oder „Das Leben der Anderen“ sind Kassenschlager.

Tätiges Vergessen war jahrhundertelang die Grundlage politischer Gesundung

Alles müsste gut sein. Aber in Wirklichkeit ist nichts gut. Unter dem Dach der Aufarbeitung machen sich Schmerz, Empörung und Verbitterung breit. Das erlebte auch Herr Behar, der seit den neunziger Jahren regelmäßig in der Schule über die Auslöschung seiner Familie sprach, sein glückliches Überleben, sein unglückliches Überleben. Er wurde in Berlin zu einer Institution, kam in fast jede Klasse, wenn die NS-Zeit auf dem Lehrplan stand, und weinte immer an derselben Stelle seiner traurigen Lebenserzählung. Aber wir Lehrer weinten nicht mehr und die Schüler auch nicht. Eines Tages meldeten sich Sprecher der älteren Klassen bei der Schulleitung und baten darum, dass Herr Behar diesmal nicht mehr kommen möge; sie wüssten ja, wie es ihm ergangen sei. Herr Behar wurde höflich ausgeladen, er setzte nie wieder einen Fuß in die Schule.

Nicht anders steht es um die Aufarbeitung der DDR-Vergangenheit: Schrille Anklagen und resigniertes Abwinken begleiten die Arbeit der eingesetzten Enquetekommission des Brandenburgischen Landtags ebenso wie den Aufbau der Gedenkstätte Potsdam Leistikowstraße. Und bei der Komplettierung der Dauerausstellung in der Lindenstraße ging es jüngst in den Medien vor allem um die Klage von Opfervereinigungen der NS-Militärjustiz und der Euthanasiegeschädigten, sie seien nicht einbezogen worden.

Lag es an individuellen Versäumnissen? Fanden willkürliche Ausgrenzungen statt? Schon möglich. Aber wenn man sich anschaut, wie in jahrelanger Arbeit praktisch aus dem Nichts eine brandenburgische Gedenklandschaft entwickelt wurde, in der die Spuren der Gewaltherrschaft und ihrer Opfer eindrucksvoll lesbar gemacht wurden, dann kann man solchen Vorwürfen kaum folgen. Der Konflikt liegt offenbar tiefer.

Das Wort „Erinnerung“ bezeichnet das, was Aby Warburg für die Kunstgeschichte eine "Pathosformel" genannt hat: eine sprachliche Gebärde, die unserer Zeit so sehr eingeschrieben ist, dass wir uns funktionierende Gesellschaften ohne waches Gedächtnis gar nicht vorstellen können. Aber die Geschichte ist da durchaus nicht eindeutig, und tatsächlich wurde der Nutzen der Erinnerung erst in jüngster Zeit anerkannt. Von der Antike bis zur Frühneuzeit wurde die politische Gesundung weniger vom Willen zur erinnernden Verarbeitung bestimmt als von der Bereitschaft zum tätigen Vergessen all dessen, was seit Beginn der Kriegshandlungen von der einen oder anderen Partei begangen worden sei.

Cicero verlangte nach der Ermordung Caesars im Römischen Senat die „Zerstörung jeglicher Erinnerung an die Zwietrachten durch ewiges Vergessen“. Friedensabkommen bis hin zum Westfälischen Frieden 1648 enthielten regelmäßig das Bekenntnis zum wechselseitigen Vergessen. Noch im späten 19. Jahrhundert hielt Friedrich Nietzsche dem Historismus seiner Zeit die Mahnung entgegen, dass die „Übersättigung einer Zeit in Historie dem Leben feindlich und gefährlich“ sei. Etwas populärer hat jüngst Götz Aly über die „galoppierende Gedenkeritis“ gespottet und polemisch gefragt: „Soll Berlin zu einer mit nazi-stalinistischen Gedenkfragmenten vollgestopften Rumpelkammer werden?“

Erinnerungen können Erkenntnis auch verstellen

Von Opferverbänden kritisiert. Die Potsdamer Gedenkstätte im ehemaligen KGB-Gefängnis Leistikowstraße.
Von Opferverbänden kritisiert. Die Potsdamer Gedenkstätte im ehemaligen KGB-Gefängnis Leistikowstraße.

© Hagen Immel

Historisch ist nicht belegt, dass das Wachhalten der Erinnerung Gesellschaften besser befriedet als das Vergessen. Dass die Greueltaten des Dreißigjährigen Krieges und der Massentod in den napoleonischen Kriegen nie aufgearbeitet wurden, hat im 19. Jahrhundert weder die europäische Bündnispolitik noch die nationalen Einigungsbewegungen behindert.

Die vornehmste Legitimation für Erinnerung und Aufarbeitung steckt in ihrer heilenden Aufgabe, auf der schon 1990 Joachim Gauck insistierte: „Vor der Gesundheit kommt der Heilungsprozess. In dieser Zeit geschieht viel Arbeit, werden medizinisches Wissen und die physischen und psychischen Kräfte des Patienten einen Bund eingehen.“ Heilung durch Wahrheit, durch Versöhnung und Ehrlichkeit – in diesen Formeln steckt ein uneingestandener Zielkonflikt zwischen fortwährendem Erinnern und abschließendem Überwinden. Aufarbeitung enthält die Idee einer Versöhnung, die sie in der Praxis nicht einlösen kann.

Dies zeigte sich prägnant in dem Streit, den Matthias Platzeck 2010 mit seiner Forderung nach Versöhnung in Brandenburg auslöste. Gefragt, was sie unter Versöhnung verstehe, wies Marianne Birthler die Verantwortung für deren mögliches Ausbleiben mit Verweis auf die Täter von sich: Ziel der Aufarbeitung sei es zunächst, „dass die Opfer mit ihrem Schicksal klarkommen und die Täter zu ihrer Verantwortung stehen. Versöhnung ist etwas Zusätzliches, sie kann sich in der Auseinandersetzung zwischen Opfern und Tätern ereignen. Sie braucht die Wahrheit und oft auch Zeit, und sie lebt von der Einsicht der Täter“. Aufarbeitung lehnt sich begrifflich an Freuds tiefenpsychologisches Konzept von Durcharbeitung und Loslassen an. Aber sie winkt mit einer Versöhnung, die sie nicht gewähren kann, ohne sich selbst aufzugeben, und die sie darum immerfort auf die Zukunft verschieben muss.

„Weinen bildet nicht“, sagte Volkhard Knigge, Direktor der Gedenkstätte Buchenwald, vor bald zwanzig Jahren. Die Konfrontation mit der Leiderfahrung alleine löst noch nicht den Lernprozess aus, und Empathie bewirkt für sich noch keine Erkenntnis, höchstens Identifikation. Solche Bildungsarbeit wäre weit vom Ideal eines mündigen Schülers oder Gedenkstättenbesuchers entfernt, der in einer demokratischen Gesellschaft erwarten darf, dass er nicht überwältigt, sondern befähigt wird, die Welt auf Basis des vorhandenen Wissens mit eigenen Augen anzuschauen. Die geschichtsdidaktischen Gebote der Multiperspektivität und Kontroversität machen vor den Toren von Auschwitz nicht halt, auch nicht vor denen des Archipels Gulag.

Die Wissenschaft muss auf Distanz bestehen

Erinnerungen können Erkenntnis auch verstellen. Die Zeitzeugen, die heute an die unmenschlichen Haftbedingungen im KGB-Gefängnis Leistikowstraße erinnern, repräsentieren die jüngste Alterskohorte derer, die vom sowjetischen Geheimdienst verfolgt wurden. Ihre Erfahrungen sind nicht identisch mit denen der Älteren, die etwa nach jahrelanger Fronterfahrung in die Potsdamer Villa verschleppt wurden. Aber wir können nur noch mit den Augen dieser Jüngsten auf die schreckliche Haft schauen. „Historisches Erinnern“, so Knigge, ist „keineswegs identisch mit kritischem, reflexivem Geschichtsbewusstsein.“ Deshalb ist geschichtliches Verstehen auch auf historisches Wissen und analytische Kompetenz angewiesen.

Hier deutet sich eine zunehmende Entfremdung von Gedächtnis und Geschichte an. Die Kluft zwischen Fachwissenschaft und Zeitzeugenperspektive öffnet sich anscheinend immer weiter. So findet etwa die neue Dauerausstellung in der Leistikowstraße zur sowjetischen Internierungs- und Verfolgungspraxis in der Fachkritik verbreitete Anerkennung und steht gleichzeitig in der Dauerkritik der Opferverbände. In der Fachwissenschaft wiederum wird immer vernehmlicher über das wachsende Unbehagen an einer Aufarbeitung diskutiert, die nicht mehr nur Gehör, Repräsentanz und Anerkennung der Leiderfahrung von Opfern fordert, sondern deren Recht auf fachliche Mitbestimmung. Die Wissenschaft hingegen muss darauf bestehen, dass die Erforschung der Wahrheit Empathie und Distanz zugleich fordert, vor allem Autonomie – gegenüber dem Staat und seiner Politik wie gegenüber der Zivilgesellschaft und ihren Akteuren.

Wir brauchen mehr kritischen Dialog zwischen einer Zeitgeschichte als Wissenschaft und einer Zeitgeschichte als Aufarbeitung. Sie müssen einander anerkennen und respektieren, aber nicht miteinander verwechseln.

Martin Sabrow leitet mit Frank Bösch das Potsdamer Zentrum für Zeithistorische Forschung. Dieser Text basiert auf einem Vortrag, den Sabrow am 18. November auf einer Veranstaltung des Brandenburgischen Ministerpräsidenten in Würdigung der Arbeit der SED-Verfolgtenverbände hielt.

Martin Sabrow

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