zum Hauptinhalt
Der Berliner Schriftsteller Hans Christoph Buch.

© Karlheinz Schindler/dpa

Prosa von Hans Christoph Buch: Zwei Wirklichkeiten

Wechselspiel von Erfahrenem und Erfundenem, von Gemachtem und bloß Geträumtem: Hans Christoph Buchs autobiografischer Prosaband „Elf Arten, das Eis zu brechen“.

Einmal nimmt Hans Christoph Buch in seinem neuen Prosaband „Elf Arten, das Eis zu brechen“ die alte Frage auf, ob die Kunst, ob die Literatur nur im aristotelischen Sinne die Realität nachahme, und der Berliner Schriftsteller meint mit fast trotziger Emphase: „Die Wirklichkeit ist ein müder Abklatsch der Literatur“, eine Kopie gar „aus zweiter und dritter Hand“.

An der Stelle geht es auch um Kleist, dessen Erzählung „Die Verlobung in St. Domingo“ Buch selbst in seinem Roman „Die Hochzeit von Port-au-Prince“ gleichsam umspielt hatte, und er verweist auf den Doppelselbstmord am Ende der Kleist-Novelle, die den Tod des Dichters und den seiner Freundin am Wannsee „bis ins Detail“ vorweggenommen habe.

Kein deutscher Autor ist so viel gereist wie Buch

Dieses Wechselspiel von Erfahrenem und Erfundenem, von Gemachtem und bloß Geträumtem durchgeistert nun die „Elf Arten“, deren Eis-Metapher einerseits auf Kafkas Diktum anspielt, dass die Literatur die Axt im Eis unserer Seele sei; andererseits beginnt Buchs Roman genannter Band, der eher eine Reihe autobiografischer Erzählungen und poetischer wie zeitgeschichtlicher Reflexionen spannend verknüpft, auf einem Eisbrecher in der Antarktis – und schließt an einem Eisloch in der Arktis, in dem ein „Fast-Doppelgänger“ Buchs, ein einstiger DDR-Wissenschaftler, wohl verschwunden ist.

Buchs Prosa, obwohl durchaus erdnah, plastisch formuliert, entfacht einen sonderbaren Sog nach oben, und das nicht nur durch die vielen geistvoll eingestreuten Lese- und Lebensfrüchte, die von der Bildung des von Lermontow bis Musil, von Walt Disney bis John Coltrane bewanderten Autors zeugen. Wobei das Wort „Wanderer“ hier seinen besonderen Sinn hat. Denn wohl kein anderer deutscher Schriftsteller ist derart viel gereist wie Buch. Der Sog nach oben entsteht indes mit einem Schweben und Schwirrren zwischen den Welten, zwischen der erfundenen und vorgefundenen Wirklichkeit. Autoren, Würdenträger, Wissenschaftler aus oft nicht geheuren Verhältnissen, ob in der ehemaligen UdSSR, in der DDR oder in Nicaragua, sind da immer auch mögliche Geheimagenten, Spioninnen, korrupte oder kuriose Dealer, Identitätsfälscher.

Das Leben nicht nur ein Abklatsch der Literatur

Hierbei spielt mit, dass der 72-jährige Buch häufig als Reporter gereist ist. Immer wieder begibt er sich in Kriege und Nachkriege, an Orte des Schreckens, für die das Wort „Krisengebiet“ eine Verharmlosung wäre, ob Ruanda oder Kambodscha. Als Zeuge, als Erzähler und zugleich als ein von der Gewalt wie ein Voyeur Gebannter. Eher beiläufig notiert er so eine Begegnung mit Schamil Bassajew („Tschetscheniens Top-Terrorist“), nach der er der „öffentlichen Auspeitschung eines Alkoholikers“ durch kaukasische Islamisten „mit einer Mischung aus Abscheu und Faszination beiwohnte“.

Buchs eigenes Buch dementiert damit die Aussage, dass das Leben, das Leiden und das Sterben nur ein Abklatsch der Literatur sei. Und der Erzähler beschwört (oder erfindet) sogar eine manchmal überwältigende psychophysische Realität. Als er in Kambodscha mit Hauptverantwortlichen der Massenmordherrschaft der Roten Khmer gesprochen und ihre Folterstätten gesehen hatte, berichtet er auf dem Rückflug von Gasen in seinen Gedärmen, die seine Sitznachbarin, eine Mitarbeiterin von Ärzte ohne Grenzen, vertreibt, so, als entströme ihm „Verwesungsgeruch (...), als zerfräße das Leichengift, das ich eingeatmet hatte, von innen meine Seele“. Darauf befällt ihn die „Ahnung, dass es jenseits der von den Lebenden bewohnten Welt eine zweite Wirklichkeit gibt, in der Untote, die nicht sterben können“, in unsere Gegenwart drängen.

Buch kontert das Bedeutungsvolle mit leisem Humor

Für sie freilich ist dann die Literatur zuständig, die Vergangenheit auch in Zukunft verwandeln kann. Deshalb gibt es hier drei Kapitel, Erstes, Zweites, Drittes „Buch“ genannt, die der gleichnamige Erzähler mit den drei Urfragen überschreibt: „Wer bin ich?“, „Woher komme ich?“, „Wohin gehe ich?“. Am interessantesten wirkt dabei Buchs eigene Familiengeschichte: Enkel eines deutschen Apothekers, der auf Haiti eine Mulattin ehelicht. Deren Sohn, Buchs Vater, ein promovierter Völkerrechtler, gilt den Nazis als nicht „rasserein“, macht nach dem Krieg Karriere als bundesdeutscher Diplomat und Botschafter, ein humanistisch gebildeter Mann, der mit Chaplinbärtchen bisweilen den großen Diktator parodiert, zum Unverständnis seines Sohns aber auch eng befreundet ist mit dem Außenamts-Kollegen Franz Nüsslein, der einst in Prag Protegé des SS-Schergen Reinhard Heydrich war und dem der Außenminister Joschka Fischer später den bis dahin amstüblichen ehrenvollen Nachruf verweigern wird.

Wenn sich Buch selber so bisweilen vom „Mantel der Geschichte“ mitgestreift glaubt, kontert er das allzu Bedeutungsvolle mit leisem Humor. So hat er dem hochgewachsenen Vater körperlich nicht ganz nachgereicht und bemerkt, „ich bin nur eins achtundsechzig groß, ein ewiger Altachtundsechziger“. Sein autobiografischer Roman gleicht einem intensiven Puzzle: manchmal mit Sprüngen, aus denen jedes Leben besteht, in denen Literatur entsteht. Zudem ist er lehrreich. Wer etwa weiß schon, dass das Binneneis der Arktis aus Jahrmillionen altem Süßwasser besteht. Den Molekülen unserer Vorzeit.

Hans Christoph Buch: Elf Arten, das Eis zu brechen. Roman. FVA, Frankfurt 2016, 253 S., 21 €. Der Autor stellt sein Buch am Do, 6. 10., 20 Uhr im Literaturhaus vor.

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false