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Lebensmuster. Felder in der serbischen Vojvodina. Foto: Art ZAMUR/GAMMA/laif

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Prosaminiaturen: Im Universum der Hähne

Dicht und kurz: Die serbischen Erzähler Dragan Aleksic und David Albahari zeigen, welche fantastischen Möglichkeiten die kleine Form bietet

Von Gregor Dotzauer

Für eine glückliche Kindheit, behauptet ein geflügeltes Wort, ist es nie zu spät. Keine Kränkung, von der sich im Rückblick nicht sagen ließe, sie habe den eigenen Stolz gefördert. Keine Niederlage, die einen nicht zu späteren Siegen motiviert hätte. Wer sich seine Geschichte nur richtig erzählt, könnte man hoffen, für den nimmt sie immer eine gute Wendung. Was aber tut der Unglückliche, der mit der Kindheit sein Paradies verloren hat? Dragan Aleksics „Geschichten, die vom Glück handeln“ machen kein Hehl daraus, dass sie in einem unwiederbringlichen „Vorvorgestern“ angesiedelt sind, in einem fernen Land vor unserer Zeit, in einem Serbien, das zu einem Reich namens Jugoslawien gehörte.

Aleksic setzt dieses Land aus 65 farbigen Vignetten noch einmal zusammen. Aber es geht in diesem ungewöhnlich einprägsamen kleinen Buch weniger darum, die Vergangenheit aufzubewahren, als ihren Abdruck lebendig zu halten. Keine Jahreszahl markiert die Szenen, nichts Geschichtliches gibt den Erlebnissen einen Rahmen. „Vorvorgestern“ ist eine Schule des poetischen Sehens, in der die ausgenüchterte strenge Sprache des Erwachsenen mit dem staunenden Blick des Kindes zusammenfindet.

Über die Person des Ich-Erzählers erfährt man dabei nur das Allernötigste; die Mechanismen der Erinnerung werden ausgespart. „Vorvorgestern“ sucht nach einer Haltung, mit der sich die Welt heute noch so unverbraucht anschauen lässt, wie sie einem einst gar nicht erscheinen konnte. Das ist das Glück, von dem dieses Buch spricht, ein Glück, das einem niemand nehmen kann.

Dragan Aleksic erzählt vom Aufwachsen im Grenzgebiet zwischen der Vojvodina und Rumänien, in einem Armeleuteviertel von Bela Crkva, an der Ecke von „Serben- und Zigeunerstraße“. Die Namen verraten, welche Welten hier aufeinandertreffen. Es sind die beiden letzten Jahre, die er, der Serbe, dort mit seinen Eltern und der zwei Jahre älteren Schwester verbringt, bevor er ans andere Ende der Kleinstadt ziehen wird, in ein eigenes Haus mit Bad. Jeder im Viertel kennt jeden, und dass es unabhängig vom tatsächlichen Verwandtschaftsgrad nur Onkel und Tanten und Omas und Opas gibt, spricht zwar für das Selbstverständnis dieser multikulturellen Gemeinschaft, verhindert aber keineswegs familiäre Zerwürfnisse. In das Geschützte dieser Welt ragt schon das Ungeschützte des Erwachsenendaseins hinein. Onkel Franja, der Bäcker, erhängt sich, weil seine Frau einen Liebhaber hat, und Jovica knüpft sein junges Leben an einen Strick, weil sich sein Soldatenleben nicht mit seinem Transvestitentum verträgt.

Je dramatischer das Erinnerte ist, umso mehr rückt es in den Hintergrund. Über das Hörensagen dringt es ein ins Bewusstsein des Ich-Erzählers Bata. Auch das Ende seiner eigenen Kindheit erlebt er so, als hätte er es nicht selbst herbeigeführt. In einer besonders eindringlichen Geschichte berichtet er, wie die Mutter seinem Lieblingshahn mit der Schneiderschere die Flügel stutzt, worauf dieser beim nächsten Flugversuch „wie ein Kürbis auf die Erde“ plumpst. Der Gnadentod wird unausweichlich. „Eines Morgens war er nicht mehr im Hühnerstall. Ich sah überall nach, draußen und drinnen – nichts. Neben dem Baumstumpf, auf dem Holz gehackt wurde, war viel Blut, an der Axt ebenfalls. Ich brach in Tränen aus, während ich mich am Drahtzaun festhielt und die Hühner betrachtete. Ich wusste, dass Mutter ihn nicht getötet hatte, sie hatte ihm nur geholfen, nicht länger zu leiden. Ich wusste, dass ich es getan hatte.“

Das Leben in Bela Crkva, der Stadt, in der Aleksic 1958 geboren wurde, ist reich an Erfahrungen des Mangels. Hier fehlt es aber auch an nichts. Die Gefahr, dass etwas pittoresk zurechtgebogen wird, entsteht nirgends. Das leuchtend Poetische ist immer auch das finster Realistische, und selbst ein erster Kuss hat seine Schrecken. „Sie sagte, ich solle mich auf sie legen. Ich tat es, um zu sehen, wie das ist. – Jetzt sind wir wie Mann und Frau, sagte Zlatica. Aus einem Nasenloch kam ihr immer grüner Rotz und verschwand wieder. – Jetzt musst du mich küssen. Ich konnte nicht. Ich sah auf ihr schwarzes Haar neben dem grünen, dem grasgrünen Korn. Mein Haar war gelb. Ich wollte so schnell wie möglich nach Hause.“

Von solchen Details lebt jede dieser Miniaturen. Wenn Tante Ruška ihren Kindern die Zehennägel mit dem Brotmesser schneidet, ist nicht die Tatsache selbst das Irritierende, sondern die Art der Bewegung: „Mit der Klinge in der Hand machte sie schnelle Schnitte, als schälte sie Kartoffeln.“ Wenn Bata von seinem weißen Hahn geträumt hat und am nächsten Morgen in den verschneiten Hof hinausschaut, sagt die Schwester: „Wie weiß alles ist. Wie die Federn von meinem Hahn.“ Und er: „Der Ziegelstein dort ist sein Kamm.“

„Vorvorgestern“, sein erstes Buch in deutscher Sprache, ist im serbischen Original bereits 1994 erschienen. Seitdem hat Aleksic nicht nur sechs weitere Bücher veröffentlicht, die zum Teil aus ähnlichen Miniaturen bestehen. Vor allem hat Aleksic vor fünf Jahren in North Olmsted, Ohio, ein neues Leben begonnen. Der Abschiedsschmerz findet sich indes schon hier, nach dem ersten Umzug: „Die Fenster unseres Hauses an der Straßenseite waren groß, aber in ihnen war nie Sonne. Morgens kam mich nie ein Engel wecken wie im alten Haus. Ich fragte, warum die Sonne nie an mein Fenster kam. Sie sagten: – Das ist die Nordseite. Als hätte ich damals wissen können, was der Norden ist.“

Von ähnlich staunenswerter Dichte, aber ganz anderer Faktur ist David Albaharis Band „Die Kuh ist ein einsames Tier“. Wo Aleksic eine Welt der Ähnlichkeiten und der Allverbundenheit beschwört, die aus dem Zutrauen in die magischen Kräfte der Sprache entsteht, da ist mit Albahari ein moderner Skeptiker am Werk, der sich und seinen Lesern die Vermitteltheit der literarischen Welterfahrung ständig bewusst macht. In einer Auswahl von 120 Kürzesttexten aus 30 Jahren begegnet man lauter intelligenzfunkelnden Solitären, die sich am liebsten selbst dabei beobachten, wie sie auf dem Papier etwas erschaffen, das außerhalb der Wörterwelt nur eine sehr eingeschränkte Wirklichkeit besitzt.

Als Romancier zählt der im kanadischen Calgary lebende serbische Jude seit vielen Jahren zu den großen europäischen Namen. „Mutterland“, sein absatzloser Monolog über Sprache und Exil, oder „Götz und Meyer“, seine unaufhörlich auf die eigene Fiktionalität verweisende Darstellung der Judenvernichtung auf dem Balkan während des Zweiten Weltkriegs, sind in ihren erzählerischen Grundstrategien den Miniaturen durchaus verwandt. Sie sind es aber nicht im immer neuen Ton, den Albahari jeder dieser rätselhaften Anekdoten, paradoxen Aphorismen und ins Fantastische umschlagenden Prosapoeme verleiht. Es gibt Texte, die sich im Schreiben selbst durchstreichen, Erfundenes, das sich auf absurde Weise selbst verschlingt, und groteske Abbreviaturen, die mit epischen Formen flirten.

„Von allen Erzählungen, die ich nicht geschrieben habe“, beginnt eine Geschichte, „mag ich am liebsten die, in der ein Junge und ein Mädchen auf einer Parkbank sitzen, sich an den Händen halten und schweigen. Nichts anderes geschah in dieser Erzählung; alles lag in der Vollkommenheit der Stille.“ Welches Glück, dass David Albahari auch solche unmöglichen Augenblicke schmunzelnd mit seinen Lesern teilt.

Dragan Aleksic: Vorvorgestern (Geschichten, die vom Glück handeln). Matthes & Seitz, Berlin 2011. 112 Seiten, 14,90 €.

David Albahari: Die Kuh ist ein einsames Tier. Kurze Geschichten und dauerhafte Wahrheiten über Liebe, Traurigkeit und den ganzen Rest. Eichborn Verlag, Frankfurt a. M. 2011. 144 Seiten, 16,95 €. Beide aus dem Serbischen von Mirjana und Klaus Wittmann.

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