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Blick in den Stand der Galerie Esther Schipper mit einer Arbeit von Cemile Sahin.

© Galerie Esther Schipper / Andrea Rossetti / Titiano Ercoli

Rache oder Rettung: Die Turiner Messe Artissima feiert ihr 30-jähriges Jubiläum

Die Gänge bieten Platz zum Flanieren, die Qualität der Kunst ist hoch: Hier kaufen Direktoren und Kuratoren von Museen ein.

Von Eva Karcher

Als Messe in öffentlichem Besitz können wir es uns leisten, auf Diskurse und Dialoge zu setzen.“

Luigi Fassi, Direktor der Artissima

Die einfachen Dinge. Ein roter Porsche kracht gegen eine imaginäre Wand. Ein Mann mit lila Krawatte, mintgrünem Anzug, kantigem Kinn, Typ James Bond, läuft drohend und voll Adrenalin auf den Betrachter zu: Will er Rache oder Rettung? Die ambivalent-ironische monumentale Bildmontage „Simple Things“ mit Crash-Motiven aus berühmten Action-Filmen inszenierte die 1990 in Wiesbaden geborene, kurdisch alevitische Multimediakünstlerin Cemile Sahin mit Motiven aus berühmten Actionfilmen unübersehbar am Stand der Berliner Galerie Esther Schipper.

Helden wie Schurken üben Gewalt aus, meint die Künstlerin

Sie habe für diese Arbeit Bösewichte aus legendären Filmen porträtiert, sagt die Künstlerin vor ihrer Arbeit. Helden wie Schurken übten Gewalt aus, um ihre Ziele zu erreichen. „Die Allgegenwart dieser fiktionalen Szenen trägt nicht zuletzt dazu bei, dass Gewalt verherrlicht wird.“ Bereits in den ersten Stunden der Turiner Kunstmesse Artissima war die Arbeit für einen fünfstelligen Eurobetrag fest reserviert; kleine Objekte in Herzform sind noch erhältlich.

Zum 30-jährigen Jubiläum hat sich die Messe unter Direktor Luigi Fassi in Qualität wie Präsentation noch einmal gesteigert. 181 Galerien aus 33 Ländern verteilen sich in acht Sektionen weiträumig in den hohen Hallen des Oval Lingotto. Die Flanierwege sind breit, die Mieten mit rund 300 Euro pro Quadratmeter erschwinglich. Als „Messe in öffentlichem Besitz“, so Fassi, „können wir es uns leisten, auf Diskurse und Dialoge zu setzen“. „Relations of care“ lautet das Motto der Messe, es basiert auf einem Konzept des brasilianischen Anthropologen Renzo Taddei, der neue Formen eines fürsorglichen Miteinander von Natur und Lebewesen fordert.

Fassi hat es für die Messe uminterpretiert. „In den letzten Jahrzehnten haben wir ein globales Netzwerk aus Künstlern, Galeristen, Händlern, Kuratoren, Beratern, Museumsdirektoren und Journalisten geknüpft. Artissima ist eine Plattform für den Markt, eng verbunden mit lokalen und internationalen Institutionen.“ Deren Direktoren und Kuratoren kaufen hier und lassen sich von der „Scout-Qualität der Messe“ inspirieren. Von einer „Messe für Entdecker“ spricht auch die Galeristin Monica de Cardenas, die Galerien in Mailand, Zuoz und Lugano führt und dieses Jahr eine best of-Auswahl ihres Programms präsentiert, darunter die schwedische Fotokünstlerin Linda Fregni Nagler mit auratisch-surrealen Portraits (8000 bis 20.000 Euro).

Die Bilder von Michael Lombardo waren gleich ausverkauft

Unter den 39 erstmals angereisten Galeristen ist auch Neugründer Michele Barbati, der bis vor einem Jahr noch bei Kordansky in Los Angeles arbeitete und sich gerade in Venedig niedergelassen hat. Er zeigt den US-Maler Michael Lombardo, dessen kleinformatige enigmatisch-figurative Gemälde nach wenigen Stunden bereits ausverkauft waren (3000 bis 9000 Euro). Auch der Österreicher Michael Höpfner, der durch Hamish Fulton zum Künstler wurde und der seit zwanzig Jahren unter anderem durch die Hochebenen in Tibet wandert, hat beim Wiener Galeristen Hubert Winter eine Einzel-Ausstellung mit meditativ-intensiven Zeichnungen und Arbeiten auf Papier (rund 20 000 Euro).

Das durchschnittliche Spektrum der Preise bewegt sich wie immer bei der Artissima moderat zwischen 2000 und 45.000 Euro – eine Summe, die Christian Meyer von Meyer Kainer aus Wien für eine der grandios grotesken großen Skulpturen von Chris Lemsalu nennt. Einen sensibel harmonischen Gemeinschaftstand bespielen Irit Sommer (Sommer Gallery) und der in Wien etablierte Galerist Gregor Podnar mit Arbeiten unter anderen von Yael Bartana, Marion Baruch, Ariel Schlesinger, und Omer Halperin (zwischen 8000 und 30.000 Euro).

Eine begehbare Architektur von Michelangelo Pistoletto

Nicht nur die Messe feiert einen runden Geburtstag. Michelangelo Pistoletto, der am 25. Juni 90 Jahre alt wurde, triumphiert mit der Ausstellung „Molti di uno/Many of One“ im Castello di Rivoli. In der Manica Lunga, dem sogenannten Langarm im vierten Stock bauten er und sein Team eine begehbare Architektur ein, einen kilometerlangen Parcours aus 29 Uffici (Büros) oder Räumen, in denen die Stationen seines bildnerisch-philosophischen Werks seit den ersten „Mirror Paintings“ Anfang der sechziger Jahre begehbar und erlebbar werden.

Auf der Messe zeigt seine Galerie Continua, die inzwischen acht Dependancen rund um den Globus versammelt, ein neues Diptychon aus Farbe und Licht, dessen Formen und Farben vor schwarzem Grund schweben. Der Preis im unteren sechsstelligen Bereich scheint für einen Künstler seiner Größe bescheiden.

Zehn Jahre jung wird das nomadische Ausstellungsformat Artuner, das Eugenio Re Rebaudengo gleichzeitig als online-Plattform gründete, und mit dem er inzwischen über 100 Künstlern Ausstellungen an ausgewählten Orten von New York bis Athen ermöglicht hat. „Dieci“ im Turiner Palazzo Coardi di Carpeneto würdigt Stars wie Michael Armitage und Josh Kline neben jüngeren Talenten, darunter auch die deutschen Maler Pia Krajewski und Jan-Luka Schmitz.

Ein Highlight, das allenfalls noch die neue Ausstellung seiner Mutter Patrizia Sandretto Re Rebaudengo in der gleichnamigen Fondazione toppen kann. Hier erforscht und durchforstet die polnische Künstlerin Paulina Olowska in der Schau „Visual Persuasion“ mit eigenen Werken und Arbeiten weiterer etablierter Künstler aus lustvoll weiblicher Perspektive das uralt-ewig junge Thema SEX. (Bis 5. November, artissima.art).

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