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Kultur: Raschelpercussion

MUSIKZIMMER Diedrich Diederichsen über Sounds aus den Slums von Südamerika „Villas“ heißen die Vorstädte von Buenos Aires. Hier hatte die Verelendung schon lange vor der aktuellen Krise jene Ausweglosigkeit erreicht, die man dem vitalen und kulturell hyperaktiven Zentrum nicht ansieht.

MUSIKZIMMER

Diedrich Diederichsen über Sounds aus den Slums von Südamerika

„Villas“ heißen die Vorstädte von Buenos Aires. Hier hatte die Verelendung schon lange vor der aktuellen Krise jene Ausweglosigkeit erreicht, die man dem vitalen und kulturell hyperaktiven Zentrum nicht ansieht. Wo man in subventionierte Theater geht, auf höchstem Niveau diskutiert und abwechselnd an das Madrid der Achtziger oder das New York der Siebziger erinnert wird. Vor einiger Zeit drang nun die neue Musik der Villas aber auch in die Zentren. Und als Argentinien vor knapp zwei Jahren in den Abgrund seiner Schulden und Währungskrise zu stürzen schien, wurde sie als der Sound dieser Krise wahrgenommen: Cumbia Villera.

Die wichtigsten Gruppen, Damas Gratis, Pibes Chorros, Yerba Brava oder La Base, veröffentlichten CDs, und Pablo Lescano, gerne als Erfinder der Cumbia Villera bezeichneter Produzent, Chef der Damas Gratis und Mentor vieler junger Bands, stellte für den Film „El Bonaerense“ einen viel beachteten Cumbia-Soundtrack zusammen, der es bis nach Cannes schaffte . Die traditionelle Cumbia, einer Art gesamtlateinamerikanische Roots- und Straßenmusik, wenn auch eher im Norden des Kontinents, wird in ihrer Villera-Version fast so produziert wie Reggae: mit viel Tiefen, gelegentlichen Echos, suggestiven Leerstellen und auf der Basis verlangsamt wiegender und weniger hektisch aufgekratzter Rhythmen. Über die Texte, die von Drogen, Alkohol und – oft sehr sexistisch – Frauen handeln, werden immer mal wieder „Selassie I“ oder andere Parolen der Rastafari gerufen. Die schnelleren Stücke haben oft Bläser-Sektionen, die an frühen Ska erinnern und die anfeuernd zischelnden Vocals stammen direkt aus dieser Vorform des Reggaes.

Zum anderen wird Cumbia Villera gerne mit Gangster Rap verglichen. Die Geschichte einer „Musik, die aus dem Ghetto kam“ (Buchtitel), scheint sich hier zu wiederholen. So gibt es auch eine homosoziale Gemeinschaft von Homeboys, die hier allerdings Pibes heißen und die Ehre ihrer Hood verteidigen, die hier das Barrio ist. Man hat Ärger beim Drogenhandel und schwärmt ambivalent von Kontrollverlusten im Rausch. Der Übergang von der Tanz- und Anfeuerungsperformance zur gewalttätigen Drohung, wie man ihn aus dem West-Coast-HipHop der frühen Neunziger kennt („Nobody moves, nobody gets hurt!“), ist auch bei der Cumbia Villera ein vertrautes Stilmittel. Immer wieder wird das Publikum aufgerufen, die Hände zu heben: mal als Zeichen der Zustimmung, dann weil gerade ein Überfall gespielt wird.

Die Mittelklasse-Kids waren auch in Argentinien gleich fasziniert, doch hatten sie ein noch schwierigeres Problem zu lösen, wenn sie sich das Anderssein dieser anderen erklären wollten, als die behüteten europäischen oder weißen US-amerikanischen HipHop-Fans: Sie konnten sich nicht auf den Kulturrassismus zurückziehen, die seien ja so anders, weil sie schwarz seien. Denn auch, wenn die Pibes sich zuweilen Negros nennen und der Anteil an indiostämmigen Argentiniern und Migranten in den Villas höher ist als in Downtown Buenos Aires, kam man nicht darum herum, sich simultane Faszination und Differenzgefühle anders und angemessener zu erklären, über den Begriff der Klasse. Dabei tauchten immer wieder Fragen auf wie: Wieso singen die vom Elend und sind dabei so fröhlich? Wieso ist die Musik so uplifting und sind die Texte so traurig? Wenn immer Musik ihr ideologisches Versprechen von Universalität und Überschreiten kultureller und Klassengrenzen tatsächlich wahrmacht, wird es vertrackt und politisch.

Bevor es aber so weit kommen konnte und jemand auf die Idee gekommen wäre, die verachteten Cartoneros – die Müllsammler und Altpapierverwerter in den Städten – und die begehrte Cumbia als Produkt der gleichen Orte zu verstehen, schlug die Segregation zurück. Bevor aber auch jemand mit der bei allen Kontroversen nie angezweifelten Attraktivität der Musik richtig Geld machen konnte, ja bevor Cumbia Villera gar als Soundtrack einer globalen spanischsprachigen Gegenkultur auftreten konnte, wurde das Problem auf andere Weise gelöst: Wegen seiner gewaltverherrlichenden Inhalte verschwand Cumbia Villera aus dem argentinischen Radio und in der Folge auch aus dem Sortiment von normalen CD-Händlern. Jetzt ist es wieder ein Undergroundphänomen, das in die Vorstädte zurückgedrängt werden konnte. Man hört die Raschelpercussions nur noch, wenn man durch ärmere Gegenden läuft. Selbst der sonst alle Barrieren niederreißende Kulturkapitalismus zog es diesmal vor, nicht an der Segregation zu rühren, deren Aufhebung doch mehr Ärger machen würde als Profit einspielen. Die, deren Interesse geweckt ist, können einen kompetenten Cumbia-Set mit dem deutschen Experten Timo Berger im Rahmen von „Pläne zum Verlassen der Übersicht“ am 21.11. im „HAU 2“, ehemals Theater am Halleschen Ufer, erleben („Cumbialounge“).

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