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Kultur: Rechenmaschine der Revolution

Was Bertolt Brecht noch im Koffer hatte: unveröffentlichte „Geschichten vom Herrn Keuner“ im Berliner Max Liebermann Haus

Herr Keuner ist ein eigensinniger Mann. Ein Anekdotenerzähler und Besserwisser, der um keine paradoxe Pointe verlegen ist. Ein Hilfsgärtner, der den Lorbeer zu einer Kugel zurechtstutzt, bis nichts mehr vom Grün übrig ist. Und ein Feierabendphilosoph, der erbleicht, wenn man ihn beim Wiedersehen für unverändert hält. Vielgestaltig und unverwechselbar wandert die Figur des Keuner durch die experimentellen Textsammlungen Bertolt Brechts ebenso wie durch seine Dramenentwürfe – und hat dabei nicht mal einen Vornamen.

Jetzt gibt es „Neues vom Herrn Keuner“. Insgesamt 15 unbekannte Geschichten zeigt eine Ausstellung der Berliner Akademie der Künste. Aufgetaucht sind sie in Zürich: In einem Koffer voller Texte und Dokumente entdeckte der Schweizer Literaturwissenschaftler Werner Wüthrich eine Mappe mit der Aufschrift „neues vom h k“. In dieser befanden sich ein Verzeichnis der KeunerGeschichten, entstehungsgeschichtlich bedeutsame Varianten bereits publizierter Texte sowie jene 15 Geschichten, die niemand zu Gesicht bekommen hatte. „Anhand dieser Mappe lässt sich nun nachvollziehen, wie Brecht 1948 die Auswahl für seine Kalendergeschichten traf“, erklärt Erdmut Wizisla, Leiter des Bertolt-Brecht-Archivs, den Fund.

Neben den Keuner-Geschichten enthielt der Koffer Arbeitsunterlagen und Briefe, aber auch Reisepässe und Fotos – insgesamt 1750 Blatt. Eine literarische Schatzkiste, die ein plastisches Bild von Brechts Zwischenstation in der Schweiz zeichnet: Von seinem Kontakt zu Max Frisch, Caspar Neher oder Ernst Ginsberg. Und vor allem von seinen legendären Theaterprojekten wie der „Antigone“ in Chur oder der Uraufführung seines Stücks „Herr Puntila und sein Knecht Matti“ in Zürich.

Nach der Rückkehr aus dem amerikanischen Exil war Brecht über Paris in die Schweiz gekommen, wo die spätere Dokumentarfilmerin Renata Mertens-Bertozzi dem armen B.B. eine günstige Unterkunft bot und seine Werke ins Italienische übersetzte. Bei ihr blieben die Manuskripte zurück, als Brecht Zürich im Mai 1949 Richtung Berlin verließ. Erst nach dem Tod der Gastgeberin tauchten sie wieder auf. Ihre Tochter Martina Mertens fand den Koffer ganz hinten in einem Kleiderschrank.

Die Ausstellung im Max-Liebermann-Haus präsentiert die Keuner-Mappe und die anderen Dokumente aus dem Zürcher Konvolut, das die Akademie der Künste zu Beginn des Jahres erworben hat, nun zum ersten Mal im Original. In schlichten schwarzen Rahmen sind Brechts Typoskripte nebeneinander gehängt. Um der Lesbarkeit willen wurden sie jeweils durch eine Transkription ergänzt – obwohl die Originale, von Kaffeefleck und Brandloch mal abgesehen, eigentlich gut erhalten sind. Den Ausstellungsraum hat Simone Schmaus aus hellen Sperrholzkisten gezimmert, die noch nach frischem Holz riechen. Das Provisorische des Brechtschen Exils ist hier in eine klar verständlicheAusstellungsarchitektur übersetzt.

Streng genommen gehören die Geschichten vom Herrn Keuner allerdings nicht an einen gemeinsamen Ort. Darauf verweist auch Erdmut Wizisla: „Brecht hat nie geplant, sie unabhängig in einer Sammlung zu veröffentlichen, und er hatte das auch in der Schweiz nicht vor.“ Über 30 Jahre hinweg versuchte sich Brecht immer wieder an der Figur des Keuner. Stets aber waren die Geschichten Teil einer größeren Komposition, Herr Keuner trat in Dialog mit den anderen Arbeiten. Dass man ihn nicht so recht zu fassen bekommt, das haben die Ausstellungsmacher in einer Frage formuliert, die sie von Brechts Nachkommen beantworten lassen: Wer eigentlich war Herr Keuner? „Die Rechenmaschine der Revolution“, nennt ihn Heiner Müller. „Er war (was niemand, der ihn gekannt hat, bestreiten kann)“, meint der Essayist Günther Anders, „Brecht selbst“. Dennoch hat ihn sein Schöpfer in der Schweiz zurückgelassen.

Max Liebermann Haus, Pariser Platz 7, bis 28. November. „Zürcher Fassung“ der Keuner-Geschichten, Suhrkamp, 14,80 €.

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