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Wo Kunst ins Leben übertritt. Der Kunsthistoriker Tilmann Buddensieg.

© DARCHINGER

Nachruf auf Tilmann Buddensieg: Reine Kraft und Form

Er war ein Kunsthistoriker, der sich die Phänomene nicht durch Theorien vom Leib halten wollte. Mit Tilmann Buddensieg.ist eine intellektuelle Instanz gestorben, der es wichtiger war, über Elektrogeräte zu Kaiser Wilhelms Zeiten Bescheid zu wissen, als über Keramik im Athen des Perikles.

Eines der frechsten Täuschungsmanöver der neueren Baugeschichte hätte beinahe die Berliner Mitte umgekrempelt. 1996 platzten der Kunsthistoriker Tilmann Buddensieg und der Architekt Axel Schultes mit einem angeblich verschollenen Entwurf Karl Friedrich Schinkels in die Schloss-Debatte. Unter der Schlagzeile „Schinkels Traum“ präsentierten sie im Tagesspiegel das unbekannte Meisterwerk, mit dem der preußische Generalbaumeister aus dem wuchtigen Schloss den Freiraum eines majestätischen „Platzes der Verfassung“ herausschälte.

Die Provenienz des kleinen Gipsmodells war genial erdacht: ein wiedergefundenes Stück sowjetischer Beutekunst – ein halbes Jahrhundert später nach Berlin zurückgekehrt. Vielleicht hätte diese Finte den Bauwettbewerb um den Schlossplatz beeinflusst, wäre die Illusion nicht so schnell geplatzt. Nach Indiskretionen gaben sich Buddensieg und Schultes als Urheber zu erkennen. Sie wollten Bewegung in die starre Front zwischen Nostalgikern und Ostalgikern bringen.

Buddensiegs Umzug 2002 von seiner Geburtsstadt Berlin nach München musste die Hauptstadt als Verlust ihres gewichtigsten Kritikers verbuchen. Da war niemand mehr, der den Nutzen der Historie für das Leben beschrieb und sich für die Rehabilitierung des verlachten Reichstages von Paul Wallot, des geschmähten Olympiastadions von Werner March oder für Axel Schultes’ angefeindetes Kanzleramt einsetzte.

Buddensiegs akademische Stationen waren Köln, Hamburg, Boston, Bonn, Los Angeles und Berlin. Erst hatte der Schüler Hans Kauffmanns als profunder Mittelalterkenner die ottonische Kunst dem heutigen Verständnis erschlossen, dann beleuchtete er angesichts des Raffael-Grabes im Pantheon die Antikenrezeption der Renaissance neu. Doch seine wahre Leidenschaft gehörte dem Reichtum der letzten großen Kunstepoche auf deutschem Boden: der Blüte von Kunstgewerbereform, Expressionismus, Industriekultur und Neuem Bauen nach 1900, der vor allem Berlin seine Weltgeltung verdankte. Buddensieg begeistert sich für Maler, die ihre Pinsel wegwarfen, um an der Ausstattung des Lebens zu arbeiten, für kunstsinnige Unternehmer, die wie Walter Rathenau in die Politik gingen, oder für Architekten wie Peter Behrens, die Bau- und Ingenieurskunst, Industrie und Werbung von der Nutz- zur Kunstform veredelten. Buddensieg wollte nicht akzeptieren, dass wir mehr wissen über Keramik im perikleischen Athen als über Elektrogeräte im Wilhelminismus.

So blieb er ein echter Historiker, der sich die Phänomene nicht mit Theorien vom Leibe hielt. Mit Quellen und Fundstücken gelang es ihm, verschüttete historische Begebenheiten zu rekonstruieren. So beschrieb er, wie Hegel in seiner Wohnung am Berliner Kupfergraben unter dem Lärm der Baustelle von Schinkels Altem Museum litt und zugleich in seinen Humboldt-Vorlesungen das Ideal des antiken Tempels dem Vorbild von Schinkels Säulenvorhang anpasste. Dem angeblich kunstfernen Nietzsche folgte er durch Italien und wies nach, dass der Philosoph sehr wohl ein Augenmensch war, der im Angesicht der Klassik zum Vordenker der Kunstmoderne wurde und die Abkehr vom Symbolischen zur reinen Kraft und Form forderte.

Auch Buddensieg praktizierte regelmäßig den Übertritt der Kunst ins Leben: als Berater des Berliner Senats oder der Porzellanfabrik KPM, als Ausstellungsmacher, Wissenschaftsorganisator und Sammler. Mit seinem letzten Buchprojekt „Nietzsche als Augenzeuge“ wollte er die lebensweltlichen Bezüge des Philosophen zu Politik, Wirtschaft und Kunst erhellen. Darüber ist Tilmann Buddensieg jetzt nach kurzer, schwerer Krankheit im Alter von 85 Jahren gestorben.

Michael Mönninger

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