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Kultur: Rente für Rigoletto!

Was taugt die Deutsche Oper? Ein Blick auf den Spielplan – vor der nächsten Opernstiftungsrunde

Hans Neuenfels ist kein Fan des Repertoire-Theaters. In einem Interview hat der Regisseur jüngst gefordert, alle Inszenierungen, die er für die Deutsche Oper Berlin geschaffen hat, wegzuwerfen. Weil die alten Produktionen zu schlecht geprobt auf die Bühne gebracht würden. Die Wiederaufnahmen, so sagte er wörtlich, seien „Scheiße“.

In seinem „Konzept zur Neustrukturierung des Opernstrukturkonzepts“ formuliert Michael Schindhelm es etwas diplomatischer. Aber im Kern ist sich der Generaldirektor der Opernstiftung mit Hans Neuenfels einig: So wie der Bühnenalltag in der Bismarckstraße derzeit funktioniert, ist das Charlottenburger Haus international nicht mehr konkurrenzfähig. „Es sind vor allem die internen Struktur- und Profilprobleme“, schreibt Schindhelm, „die zu dem Vorschlag führen, die Deutsche Oper von einem nicht mehr funktionierenden Repertoire zu entlasten.“

Berlins größtes Musiktheater soll sich von der deutschen Theatertradition verabschieden, mehrere Dutzend Inszenierungen im Repertoire zu halten, die über viele Jahre hinweg parallel gezeigt werden. Stattdessen möchte Schindhelm das sogenannte Stagione-Prinzip einführen. Bei dieser kostengünstigeren Betriebsform kommen die Produktionen in kurzem Abstand nacheinander heraus und werden nach nur einer einzigen Aufführungsserie abgesetzt oder an andere Theater weitergereicht. Nach diesem Prinzip funktioniert das MusiktheaterBusiness fast überall auf der Welt. Der Idee des Repertoires dagegen fühlen sich die Opernhäuser des deutschsprachigen Raums verpflichtet – und die des ehemaligen Ostblocks.

Bis zum morgigen Montag sollen die Berliner Opernintendanten Schindhelms provokantes Projekt auf seine Plausibilität hin prüfen. Und bis zum Monatsende können sie dem Regierenden Bürgermeister Klaus Wowereit und seinem Kulturstaatssekretär André Schmitz Alternativvorschläge unterbreiten. Auf der nächsten Stiftungsratssitzung Mitte Februar dürfte es also hoch hergehen.

Das Repertoire ist der Backkatalog der deutschen Theater. So wie die Verlage neben den Neuerscheinungen eine Reihe lieferbarer Titel im Programm halten, die sich bei Bedarf jederzeit aus dem Lager hervorholen lassen, legen sich die Bühnen einen Inszenierungsfundus an. Hans Neuenfels hat an der Deutschen Oper eine ganze Reihe Regiearbeiten von zeitloser Gültigkeit hinterlassen. Seine Deutungen von Verdis „Rigoletto“ und „Die Macht des Schicksals“ aus den achtziger Jahren haben Patina angesetzt, manches Detail hat sich abgeschliffen – ihre starke Wirkung auf Anhänger wie Gegner des Regisseurs aber haben sie nicht verloren. Wenn sich die eine oder andere Premiere der Saison als Flop erweist, füllen die Musiktheater ihre Spielpläne mit den Repertoirestücken auf – so wie Buchverlage das Risiko, das mit jeder Neuerscheinung verbunden ist, durch Longseller abpuffern. Neuenfels’ olle, dolle Kamellen sind eine wichtige Stütze für die schwankende Deutsche Oper.

144 verschiedene Inszenierungen haben die drei Berliner Opern im Repertoire, wobei die Deutsche Oper mit 70 Titeln fast so viele Werke bereithält wie ihre Konkurrenten zusammen. Dass die Komische Oper ihr Repertoire auf 24 Stücke beschränkt, liegt am Profil des Hauses: Wer aktuelles Musiktheater machen will, darf sich nicht an Erfolge von gestern klammern. Dass die Staatsoper die Zahl ihrer Repertoire-Stücke mit lediglich 49 angibt, obwohl das Haus genauso viele Subventionen erhält wie die Deutsche Oper, zeugt davon, wie gut es im Repräsentationsbau Unter den Linden läuft. Je mehr Neuproduktionen sich in der Publikumsgunst zu Dauerbrennern entwickeln, desto eher kann man die Magazinbestände ausmisten.

Schaut man sich das Kernrepertoire an der Deutschen Oper an, stößt man dagegen auf ein echtes Inszenierungsmuseum. Mozarts „Don Giovanni“ hatte 1973 Premiere, „Figaros Hochzeit“ 1978. Boleslaw Barlogs Produktion von Puccinis „Tosca“ stammt von 1969, Peter Beauvais’ Interpretation der „Carmen“ von 1979. Beide Stücke wurden seitdem in fast jeder Spielzeit gezeigt, ebenso wie Guiseppe Verdis „Aida“, die Götz Friedrich 1982 inszenierte, im ersten Jahr seiner Intendanz. Mit gemalten Bühnenbildern im Stil des 19. Jahrhunderts kamen 1974 Ponchiellis „Gioconda“ und 1980 Donizettis „Lucia di Lammermoor“ heraus, die „Elektra“ ist von 1972, „Macbeth“ von 1980. Selbst „Der Ring des Nibelungen“ in der viel geliebten Deutung durch Götz Friedrich ist 22 Jahre alt, sein „Tristan“ gar 27 Jahre. Beide Wagner-Werke stehen in dieser Saison auf dem Spielplan.

Unglaublich retro wirkt John Dews Gounod-„Faust“ von 1988 mit Breakdancern und U-Bahn-Pantomime, ähnlich die protzige „Turandot“ von 1986. Und die 20 Jahre alte „Madame Butterfly“ mit ihren „original japanischen“ Dekorationen ist ebenso dem filmischen Realismus verpflichtet wie Friedrichs 1988er „Bohème“.

Ein derart überaltertes Repertoire lässt sich selbst mit bestem Willen kaum noch adäquat pflegen. Zumal in vielen Fällen die Regisseure mittlerweile gestorben sind, die Assistenten von damals längst nicht mehr in der Bismarckstraße arbeiten. Die Wiener Staatsoper, das Haus mit dem weltweit größten Repertoire, funktioniert nur deshalb, weil hier die Regie nicht die erste Geige spielt. Intendant Ioan Holender steht auf dem Standpunkt: „Wenn die Sopranistin in dieser Szene eine Bank auf der Bühne haben möchte, steht dort eine. Wenn nicht, dann nicht.“ Diese Nonchalance kann sich nur erlauben, wer wie die Wiener nicht auf ausgefeilte Regie setzt, sondern auf echte Weltstars, Abend für Abend. In Berlin allerdings, wo Walter Felsenstein das moderne Musiktheater erfunden hat, bei dem Gesang und Schauspiel gleichberechtigt nebeneinanderstehen, lässt man sich mit purer Vokalkulinarik nicht abspeisen.

Das größte Problem der Deutschen Oper: Seit der Jahrtausendwende sind fast keine repertoiretauglichen Produktionen mehr hinzugekommen. Peter Konwitschnys „Intolleranza“, Günter Krämers „Mahagonny“, Volker Schlöndorffs „Aus einem Totenhaus“ oder Daniel Libeskinds „St. François“ verschwanden ebenso schnell aus dem Spielplan wie „Hans Heiling“, „Pelleas et Melisande“ oder „Die tote Stadt“. Vor allem die Neuinszenierungen der Klassiker floppten: Christof Nels „Fidelio“, Sven-Eric Bechtolfs „Hoffmanns Erzählungen“, Achim Freyers „Salome“. Allein Katharina Thalbachs charmante Sicht auf Janaceks „Schlaues Füchslein“ vom Juni 2000 wurde zum Überraschungserfolg.

Michael Schindhelms Vorschlag, hier einen harten Schnitt zu machen, ist darum nur folgerichtig. Ob sein Konzept in allen Finanzdetails realistisch gerechnet ist, müssen die Geschäftsführer der Häuser beurteilen. Was zählt, ist der Befreiungsschlag. Nur ohne die erdrückenden Repertoire-Altlasten ist eine Renaissance der Deutschen Oper denkbar.

Mit 13 Premieren pro Spielzeit möchte Schindhelm das Haus zum Publikumsmagneten machen. Sicher, die wenigsten Inszenierungen würden noch in der Bismarckstraße selber entwickelt werden, doch der Reiz des Stagione-Prinzips liegt ja gerade darin, dass man gezielt solche Stücke einkaufen kann, die in anderen Städten bereits erfolgreich gelaufen sind.

Dass Kirsten Harms die Systemumstellung als Zumutung zurückweist, ist kein Wunder – weil sie dann keine autonom waltende Künstlerintendantin mehr wäre. Dabei betreibt sie de facto bereits Stagione-Programmpolitik. Betrachtet man die letzte und die laufende Spielzeit, findet sich unter zehn Premieren gerade mal ein einziges Werk aus dem Kernrepertoire, nämlich Webers „Freischütz“ (Premiere: 24. März). Mundrys „Odyssee“ , Maws „Sophie’s Choice“, Puccinis „Trittico“, Strauss’ „Arabella“, Bellinis „Sonnambula“ und die Mozart-Fragmente sind dagegen ebenso wie Franchettis „Germania“, Verdis „Simon Boccanegra“ und Zemlinskys „Traumgörge“ allesamt Stücke, die geradezu nach Koproduktionspartnern schreien. Diese Raritäten und Nebenwerke großer Meister zehnmal in Berlin zu zeigen, um sie dann auf Tour zu schicken, nach Barcelona, Genua oder Madrid und sie vielleicht für eine weitere Aufführungsserie zurückzuholen: Das wäre praktikabel und vernünftig.

Michael Schindhelms Vorschlag birgt mächtig Sprengstoff in sich – aber eben auch eine grandiose Chance: Nämlich die beiden konkurrierenden Systeme im Direktvergleich in einer Stadt zu erleben, Stagione an der Deutschen Oper, während Staatsoper und Komische Oper weiterhin Repertoire spielen. Wo sonst ist so ein spannendes Experiment möglich – wenn nicht in Berlin?

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