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Kultur: Roll over Tschuck

Familientreffen: Chuck Berry rockt im Berliner Tempodrom

„Roll Over Beethoven I gotta hear it again today!“ Heute hören wir es wieder: „Roll Over Beethoven and tell Tschaikowsky the news...“

Auf der Bühne steht Chuck Berry, und er sieht blendend aus. Mit der blauen Kapitänsmütze, dem roten Seidenhemd, das golden glitzert. Und seiner weinroten, abgeschrammelten Gibson-Halbresonanz-Gitarre. Die klingt heute fast nach Punk, sehr grob, sehr verzerrt. Und ein bisschen kaputt. Als hingen die Membranen der beiden Fender-Boxen in fledderigen Fetzen. Gewagt lockerer Freistil auch der Gesang, der mehr gesprochen und gebellt mit Intonation und Phrasierung schleudert und schludert. „Hail, hail Rock’n’Roll, deliver me from the days of old!“

Chuck Berry, am 18. Oktober ist er 79 geworden, erlöst mit seinem Rock’n’Roll alter Tage einmal mehr von jeglicher neuzeitlichen Trübsal. Noch einmal singt er die schöne Geschichte von „Sweet Little Sixteen“, jenem Song, der im Februar 1958 Platz 2 der amerikanischen Billboard Charts erreichte. „Sweet Sixteen“ ist über 60 inzwischen, und mit ihren Kindern und Enkelkindern freuen sich die Fans im Berliner Tempodrom, noch einmal einen der größten Rock’n’Roller aller Zeiten erleben zu können.

Im Tribünenrund sieht es ein bisschen aus wie bei „Wetten dass..?“ Die jüngeren Rockabillys stehen ganz vorne vor der Bühne. Mit Schmalztolle und Texasschlips. „The joint was rockin’, goin’ around and around.“ Da spielt es keine Rolle, wenn Chucks Stimme nicht immer die höheren Noten trifft – und seine Finger nicht immer die richtigen Stellen auf dem Griffbrett.

Früher hätte er keinen zweiten Gitarristen neben sich auf der Bühne geduldet, höchstens vielleicht alte Kumpels vom Kaliber eines Bo Diddley. Heute spielt Berrys Sohn Charles jr. die meisten Gitarrenpassagen, die klassischen Solos des Vaters, während jener eher sparsame Akkorde dazwischenklopft. Wenn er nicht gerade mit dem vorzüglichen Pianisten Joja Wendt gemeinsam die Tastatur bearbeitet. Ebenfalls zur Entlastung des Vaters singt zwischendurch seine Tochter Ingrid Berry, nein, nicht die Songs von Daddy, sondern „Honest I Do“ und „Key To The Highway“, Jimmy Reed und Big Bill Broonzy.

Dann wieder Chuck mit rohen Versionen seiner wunderbaren Klassiker: „Carol“, „Little Queenie“, „Johnny B. Goode“. Und wer wollte mäkeln an dem schlitzohrig charmanten alten Herrn, wenn ihm doch höchster Respekt gebührt. Immerhin war er derjenige, der die elektrische Gitarre im Rock’n’Roll gewissermaßen erfunden hat. Mit seiner Verschmelzung von Blues, R&B und Country kreierte er seinen unverkennbaren eigenen Stil. Heute gibt es keinen Gitarristen in der Rockmusik, dessen Spielweise nicht auf Chuck Berry zurückgeht. Und schon im Liverpool der sechziger Jahre gab es keine Band, die nicht „Tschuck Berrrry“ ihr größtes Vorbild genannt hätte. Die Beatles bezogen ihre frühen Einflüsse ebenso von ihm wie eine junge Londoner R&B-Gruppe mit dem vielversprechenden Namen The Rolling Stones. Mick Jagger und Keith Richards gehörten zu seinen eifrigsten Jüngern.

Auch die klassischen Berry-Gitarrenintros etwa zu „Carol“ oder „Johnny B. Goode“ sind in den letzten 50 Jahren immer wieder imitiert und erneuert worden. Und keine der jüngeren Bands wie Oasis, White Stripes, Franz Ferdinand wäre ohne ihn denkbar. Seine lakonisch humorvollen Lyrics über den Teenageralltag zwischen Lebensfreude und Frustration, zwischen Schule, Rock’n’Roll und flotten Autos haben vor einem halben Jahrhundert bis heute gültige Maßstäbe gesetzt.

Schelmisch zwinkert Chuck ins Publikum: Zum Schluss mögen doch ein paar junge Mädchen zu ihm auf die Bühne kommen und mit ihm tanzen. Die jüngste ist höchstens sieben, sie ist ganz hingerissen von dem lustigen alten Mann. Zusammen hüpfen und lachen die beiden zu seinem immer wieder mitreißenden, typischen Shuffle-Beat: „Reelin’ And Rockin’“.

Nach einer Stunde ist es vorbei. Hail, hail Rock’n’Roll! Lang lebe Chuck Berry!

H.P. Daniels

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