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Kultur: Roman eines Vaterlosen

Der US-Schriftsteller J. R. Moehringer und seine Lebenserzählung „Tender Bar“. Eine Begegnung

Gleich nach der Begrüßung im Foyer des Hotels in Berlin Mitte verkehren sich die Rollen. Der Reporter wird zum Befragten, und der, um den es geht, schaut neugierig, als würde er gerade eine Geschichte recherchieren.So schließt man Menschen auf. Dabei redet J. R. Moehringer nicht gerade wenig. Nur stellt sein Reden eher ein geräuschvolles, aufmerksames, die Zunge des Gegenüber lockerndes Zuhören dar. Minuten später, auf den Hockern eines winzigen Stehcafés, stellt sich auch noch ein großes, versöhnliches, weltbejahendes Wir ein: „Du weißt, dass ein Autor mal eine Pause braucht. Ich weiß es. Aber weiß es auch der S. Fischer Verlag?“, sagt Moehringer, als würde man sich schon ewig kennen. Moehringer kommt gerade von einer Lesung aus Zürich, in wenigen Stunden geht er zum Empfang seines Verlages.

Dies ist eine amerikanische Geschichte. Nicht nur, weil Moehringer 1964 in New York geboren wurde und jetzt in Los Angeles lebt; nicht nur, weil er mit kurzem, Haar, weiten Jeans und frischgebügeltem Hemd wie ein smarter Cowboy aussieht, der seinen Hut vergessen hat. Es ist vor allem eine amerikanische Geschichte, weil in ihr oft die Worte „Herz“, „Leidenschaft“, „Alkohol“ und „Liebe“ vorkommen. Liebe zur Familie, Liebe zur Gemeinschaft, Liebe zur Idee, irgendwann sein Leben aufzuschreiben – auch wenn es Jahre dauern kann.

„Tender Bar“ heißt die Lebensgeschichte, die in Amerika 2005 erschien und monatelang die Bestsellerlisten anführte. Das Buch erzählt, wie ein Junge in ärmlichsten Verhältnissen bei Mutter und Großeltern im Städtchen Manhasset auf Long Island aufwächst und in einer Bar namens Dickens nicht nur viele Ersatzväter findet, sondern auch alle Lektionen lernt, die für ein erwachsenes Leben nötig sind. Die Bar gab dem Jungen „seinen Glauben“ zurück, „hütete“ ihn als Teenager, „nahm sich seiner als junger Mann“ an und „wies ihn im entscheidenden Moment“ ab, womit sie ihm „das Leben rettete“, wie es im Prolog heißt. Statt Thekenheld oder Barmann wie sein Onkel, wurde aus J.R. Moehringer schließlich ein Star-Journalist bei der „Los Angeles Times“, der für eine Reportage über eine Fährverbindung zwischen einem weißen und einem schwarzen Dorf 2000 mit dem Pulitzer- Preis ausgezeichnet wurde.

Bis dahin musste er freilich ein breites Tal der Tränen durchqueren. Moehringer scheiterte bei der „New York Times“ und musste sich zuvor in Yale seine Ungebildetheit attestieren lassen, nachdem er in Hunderten einsamen Kindernächte im Radio der Stimme seines abwesenden Vaters gelauscht hatte, eines alkoholkranken Moderators, den die Mutter verlassen hatte. Trost spendete später nicht nur die Bar, sondern auch der Cousin, Buchhändler Bud, der ihm riet „die Angst als deinen Führer, deinen Wegweiser“ zu begreifen – und immer wieder die Mutter, eine „mutige Frau“, der „Tender Bar“ gewidmet ist.

So offenherzig und emphatisch wie die Einleitung ist das gesamte Buch geschrieben. Das macht seinen Charme, seine Kraft aus und führt zu rührenden Porträts – vom unwirschen Großvater, der nur in Werbesätzen redet, aber im richtigen Moment für den Enkel da ist; von Onkel Charlie, der ihn in die Welt der Bar einführt und ihn auf Druck der Großmutter regelmäßig zum Schwimmen mitnimmt; und von vielen Bobos, Joeys, Tims und Colts, alles harte Jungs, die aber ihre obszöne Zunge hüten, sobald der kleine J.R. in der Nähe ist. Das Bekenntnishafte befremdet den deutschsprachigen Leser aber auch. Denn hierzulande ist das Genre des „literarisch geschriebenen Porträts einer unbekannten Person“ noch weitgehend unbekannt. So unbekannt, dass S.Fischer das Buch als Roman verkauft, was zu falschen Erwartungen führt. Als die Hauptfigur nach einem Drittel zum ersten Mal beim vollen, mit dem Autornamen identischen Namen genannt wird, vermutet man eine postmoderne Spielerei zum Thema Fiktion und Wirklichkeit.

Das Gegenteil ist der Fall: „Alles ist wahr. In Deutschland werde ich gefragt, wie viel ist autobiografisch. In Amerika wollen die Leute nur wissen, was nicht der Wahrheit entspricht. In Zeiten von Krieg und politischem Chaos wollen die Menschen keine erfundenen Geschichten hören, sondern etwas von der Wirklichkeit lernen. Offenbar leben wir in einer solchen Zeit – das Verhältnis zwischen Sachbüchern und Belletristik liegt bei fünf zu eins.“

Moehringer bedauert das. Denn eigentlich will er Romane schreiben und hatte die „Geschichte seines Lebens“ vor 15 Jahren auch als Roman begonnen. Doch das Material zerfiel, er fand keine Form. Erst als ein Verleger ihn darauf aufmerksam machte, dass man alles auch unverfremdet aufschreiben könne, und er das Dickens als zentralen Ort und Metapher gefunden hatte, fügte sich der widerspenstige Stoff. „Das Interessante ist, dass das Leben romanhafte Strukturen hat. Beim Ausarbeiten der Storyline fielen mir Parallelen und Wiederholungen auf, die man normalerweise nur aus Büchern kennt.“

Eine der traurigsten Wiederholungen findet sich in einer Szene am Ende des Buchs. Als junger Erwachsener besucht J.R. seinen Vater und dessen Freundin, um sich mit ihm zu versöhnen. Der Besuch gerät aus dem Ruder, der Vater wird gewalttätig – genau wie an dem Tag, an dem seine Mutter ihn verlassen hatte.

Moehringer selbst hat keine Kinder. „Dafür fehlt mir noch die Partnerin.“ Aber im Windschatten des Erfolgs hat sich ein väterliches Verantwortungsgefühl eingestellt. „Amerika hat ein großes Problem mit Vaterschaft. Ungefähr fünfzig Prozent der Jungen wachsen heute ohne Väter auf. Vor meiner Abreise bekam ich eine Mail von einem Siebzehnjährigen, der bei seiner Mutter lebt. Sie hatte ihm das Buch gegeben, und er schrieb mir, dass er eigentlich nicht wisse, warum er mir schreibt. Es war herzzerreißend. Ich glaube, der Junge wollte von mir wissen: Wo gehe ich hin? Was bedeutet es, ein Mann zu sein? Ich habe mir große Mühe mit der Antwort gegeben, obwohl ich die Antwort auf solche Fragen auch nicht kenne.“

Wie haben die Dargestellten eigentlich auf das Buch reagiert? „Positiv. Das schönste Erlebnis war die Lesung in Manhasset. Es kamen 300 Leute und zwanzig Figuren aus dem Buch, die ich persönlich vorgestellt habe.“ Dann macht J.R. Moehringer eine seltene Pause. „Nur von Bud habe ich leider nichts gehört.“ Bud, das war der Buchhändler, der dem jungen J.R. das Tor zur Literatur geöffnet hatte. Noch ein Verschwundener. Die Vaterlosen hören nie auf zu suchen.

J. R. Moehringer. Tender Bar. Aus dem Amerikanischen von Brigitte Jakobeit. S. Fischer Verlag, Frankfurt. 460 S., 19, 90 €.

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