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Frisch ausgeliefert. Benjamin von Stuckrad-Barres Roman „Noch wach?“

© dpa/Jens Kalaene

Roman „Noch wach?“: Stuckrad-Barre tut alles, um Fiktion und Wirklichkeit verschwimmen zu lassen

Halb erfunden, ganz oder gar nicht? „Noch wach?“ will um keinen Preis ein Schlüsselroman über den Springer-Konzern sein. Doch das Leugnen gehört zum doppelten Spiel der Gattung.

Ein Kommentar von Gregor Dotzauer

Im Unterschied zu Nürnberger Lebkuchen und Allgäuer Bergkäse ist die Bezeichnung Berliner Schlüsselroman gesetzlich nicht geschützt. Jeder kann behaupten, etwas Derartiges verfasst zu haben, wobei es die Glaubwürdigkeit des eigenen Anspruchs erhöht, dies im selben Atemzug weit von sich zu weisen. Benjamin von Stuckrad-Barre tut gerade alles, um dieses doppelte Spiel rund um „Noch wach?“ auf die Spitze zu treiben, sei’s in den nach allen Richtungen blinkenden Motti und Vorsprüchen seines Romans, sei’s im „Spiegel“-Interview.

Was daran schieres Marketing ist, was die Not, den Anwälten des Springer-Konzerns nicht noch freiwillig Munition zu liefern, und was der Wunsch, Rachegelüste an einem „Ex-Freund“ auszuleben, wie Springer-CEO Mathias Döpfner hier in namenloser Unschuld heißt, zu fiktionaler „Literatur“ zu stilisieren – es lässt sich nicht mehr trennen. Die Motivlage wird immerhin dadurch geadelt, dass es sich um einen Fall enttäuschter Liebe zu handeln scheint: Da hasst es sich auch in der Kunst besonders schön.

Stuckrad-Barre hat das Privileg, dass viele seiner Figuren, unter denen einige mit Klarnamen auftreten, gerade in aller Munde sind. Das kann man vom literaturhistorischen Inbegriff des roman à clef, Madeleine de Scudérys zwischen 1648 und 1653 in zehn Bänden mit mehr als zwei Millionen Wörtern erschienenem Mammutwerk „Artamène ou le Grand Cyrus“ nicht behaupten.

Weder sein durchs antike Assyrien wandelndes Personal geschweige denn der Pariser Salon der Marquise de Rambouillet, den sie darin porträtierte, sagen heutigen Lesern etwas. Der Schlüsselbund zu diesem Schlüsselroman ist verlorengegangen, und mit ihm hat sich jeder literarische Reiz verflüchtigt.

Er wiederum hält den wohl berühmtesten deutschen, 1936 in Amsterdam erschienenen Schlüsselroman, Klaus Manns „Mephisto“, bis heute am Leben. Ja man würde vom moralischen Zwielicht, in das sich der Schauspieler Gustaf Gründgens nach Hitlers Machtübernahme begab, viel weniger wissen, wenn Mann, auch er die Genrezuschreibung hartnäckig leugnend, es nicht in der exemplarischen Figur des opportunistischen Hendrik Höfgen gestaltet hätte.

Zu beurteilen, was Stuckrad-Barre in „Noch wach?“ an Zeitdiagnostischem erkannt hat, ist jetzt erst einmal Sache der Kritik. Denn auch dieser angeblich aufs Überpersönliche zielende Schlüsselroman zehrt von einem autobiografischen Schreiben, das anders als in der offenen Selbsterkundung seines letzten Buchs „Panikherz“ erst einmal von sich absehen müsste. Über die Haltbarkeit des Ganzen werden, sehr bald, ohnehin andere Kräfte urteilen.   

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