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Kultur: Romane überholen die Krise

Auf der Frankfurter Buchmesse herrscht in diesem Jahr Katerstimmung. Trotzdem triumphiert die Literatur über die Wirklichkeit

Von Helmut Böttiger

Vor wenigen Jahren redete man noch vom Ende der Geschichte, von der „Posthistoire“. Das war kein Witz. Es entsprach dem damaligen Stand der wissenschaftlichen Forschung. Der Kapitalismus hatte scheinbar endgültig gesiegt, er drehte seine Pirouetten nur noch um sich selbst, und es ging lediglich darum, die Märkte global abzustecken. Im Zeitalter der Virtualität und der New Economy waren es gar keine Spekulationen mehr, was man betrieb, es war alles ein großes Spiel.

Auch in der Literatur war das so. Sie ging an die Börse. Im Laufe der neunziger Jahre hatten scheinbar realistische deutsche Texte eine erstaunliche Konjunktur. So etwas geschieht immer, wenn die Widersprüche erst einmal eingeebnet sind. Wenn es nichts Sperriges mehr gibt, nichts, was eine Spannung auszuhalten hätte. Der Posthistoire entsprach eine Nutella- und Haribo-Literatur. Es ging um Kindheitserinnungen, um verschiedene Identitäten des Konsums; manche sagten auch „Popliteratur" dazu. Die Kurse für deutsche Gegenwartsliteratur stiegen, und das schien ewig so weiterzugehen.

Hyperrealismus

Dass die Literatur aber ihre eigene Zeit hat, zeigt sich dieses Jahr wieder auf der Frankfurter Buchmesse. Denn während die gesamte Branche bestürzt ist über das Ausmaß der Krise, das sie ereilt, während man noch ziemlich desorientiert nach den Scherben sucht, die man zusammenkehren könnte, erscheint schon ein Buch, das dies beschreibt. Ernst-Wilhelm Händlers Roman „Wenn wir sterben“ zeigt, wie unsere Arbeitsverhältnisse aussehen und unser Bewusstsein. Er zeigt es als Momentaufnahme, ohne Erklärung, Herleitung oder Diagnose; er arbeitet mit Zoom, mit Vergrößerung, mit einem genauen Sezieren von Details – es ist ein Hyperrealismus, mit dem wir erst einmal lernen müssen, umzugehen. Denn wir stehen uns offenkundig sehr fremd gegenüber.

Der Roman kreist um vier Spitzenmanagerinnen, die alle Mitte Vierzig sind: ein grausames Alter. Hier stellt man keine Sinnfragen mehr, man hat einfach keine Zeit dafür. Was sie genau managen, wird nirgends ausdrücklich gesagt – weil das so konkret gar nicht möglich ist. Die Mächtigste von ihnen ist jedenfalls die Erfinderin von „Totally Integrated Automation“. Es geht um Produktionsabläufe, um Rationalisierung, um etwas also, das immer abstrakter und gleichzeitig dominanter wird. Es ist aber auch so: „Je höher ein Manager aufstieg, desto allgemeiner wurden die Ziele und desto unklarer die Maßstäbe, ob er die Ziele erreicht hatte.“ Das ist auch ein Gradmesser für das Wertesystem der Gesellschaft überhaupt: Was ist Leistung? Was ist Vermögen? Ist Vermögen gleichbedeutend mit Geld, oder zählt das, was einer vermag, im Grunde gar nicht?

Händlers Roman bewegt sich auf einer sehr abstrakten Höhe, und er benutzt dazu eine Sprache – es ist keine Sprache, es sind viele verschiedene Sprachen – die im Gleichklang der Gegenwartsliteratur derart schrill und dissonant klingt, dass alle wegwerfenden Gesten von gestern gleich automatisch abgerufen werden können: Unverständlich! Langweilig! Abgelegte Avantgarde! Dabei hält Händler uns nur den Spiegel vor. Und was wir im Spiegel sehen, ist eben nicht geschönt und pastellgemalt. Das kann man leicht für unverständlich halten.

Charlotte, Bär und Stine sind die Spitzen der Firma Voigtländer. Zunächst verfahren sie nach dem aktuellen Herrschaftsprinzip der flachen Hierarchie, doch das überdeckt die Machtbestrebungen der Einzelnen nur formal. Das Entscheidende bei diesem Teamwork an der Spitze ist, dass nicht gesprochen wird. Keiner bekämpft den anderen offen. Es gelten ungeschriebene Gesetze, und da sie schwer zu fassen sind, werden auch die Verhaltensweisen und Kommunikationssituationen immer mittelbarer und indirekter. Die ungeschriebenen Gesetze, so heißt es einmal, „nahmen allen Gefühlen die Echtheit, raubten ihnen jede Daseinsberechtigung“. Gefühle sind wie ein Zitat im Zitat: da stellt sich auch die Frage nach dem Einzelnen ganz neu. Der Roman beantwortet diese Frage unter anderem mit einem kursiv gedruckten, diffusen „wir“, das auch im Titel auftaucht und etwas Gespenstisches hat, etwas zwischen Futurismus und Apokalypse.

Sexy, gewalttätig und cool

Stine, die Frau, die sich die Lippen aufgespritzt hat und immer weiß geschminkt ist, mit dem großen roten Mund als Mittelpunkt, setzt sich bei Voigtländer allein an die Spitze: „Meine Produkte sind sexy, gewalttätig und cool“, sagt sie in Tateinheit mit ihrem Freund Egin. Doch es sind natürlich auch die sexuellen Konnotationen, die sich verselbständigt haben. Stine schläft kaum noch mit Egin, aber kreiert sich umso mehr als sexuell attraktiv; der Narzissmus ist weitaus befriedigender als der Beischlaf. Nicht von ungefähr geistern zwei Models durch das Buch, Angel und Drifter, die Tänzer sind und in der Werbebranche arbeiten: Sendboten aus einer Welt von Verheißungen, so wie das Marketing das Produkt fast schon ersetzt.

Die zentrale Stelle in Händlers Roman spielt auf einer Industrie-Messe, ein stimmungsvoller Hintergrund zur Frankfurter Buchmesse also – nicht nur, weil es genauso auch um Buchproduktion gehen könnte, sondern weil hier formal reflektiert wird, was literarisches Schreiben in der Gegenwart leisten müsste. Milla, die Spitzenmanagerin des multinationalen Konzerns D’Wolf, „ist aus der Haut gefahren“. Sie spaltet sich in zwei verschiedene Ichs auf. Es kommt dann zu Sätzen wie: „Vielleicht war es Taktik, dass du aus deiner Haut gefahren bist, um mich in die Position zu bringen, dich jetzt das empfinden und erfühlen zu lassen, was du aus irgendeinem Grund vorher nicht erfühlen, empfinden konntest.“ Eine multiple Person, entsteht hier, eine konkrete Variante jüngerer philosophischer Konstrukte, dass es kein fest umrissenes Ich mehr gebe.

Das Pendant dazu ist Stine, die Milla ein Joint Venture vorschlägt: Stine wirbt an ihrem Stand mit einem techno-utopischen Video voller Sex-Appeal, in dem sie unter anderem verkündet, dass sie einen Mikrochip unter ihre Haut eingepflanzt habe – damit öffnen sich alle Türen wie von selbst, vom Auto bis zur innersten Büronische. Als Milla sie darauf anspricht, spielt sie jedoch eine ganz andere Rolle: das habe alles die Marketingabteilung so gestylt, sie selbst besitze nicht einmal ein Handy. Und am wichtigsten sei ihr das Zusammenleben mit ihrem Freund.

Selten ist diese harmlose, sympathische, „natürliche“ Lebensvorstellung in solch ein künstliches, falsches Licht getaucht worden wie in dieser Szene. Man kann sich an nichts halten, nichts stimmt. Und man selbst ist sich am wenigsten greifbar. Händlers Hyperrealismus rückt nicht nur dem neu entfesselten Kapitalismus zu Leibe, er provoziert auch alle landläufigen Realismusmodelle oder Oberflächenmakulaturen, die in den letzten Jahren grassierten, mit dem Aufwachsen in der Provinz, den Pelikan- oder Geha-Füllern, den Markenartikeln. Literatur ist mehr als eine deutsche Filmkomödie. Sie ist auch mehr als eine Form von „Vergnügen“, das maskenhaft vor sich hergetragen wird, so dass das ständige Grinsen zur Grimasse erstarrt. Literatur ist das ganz Andere.

Es braucht Bücher wie das von Händler, um diese Gewissheit wieder in Erinnerung zu rufen. Denn die virtuelle Vorstellung einer stillgelegten Gegenwart, die nur noch die Schnelligkeit der Rendite registriert, hat sich im Laufe der neunziger Jahre auch des Literaturbetriebs bemächtigt. Die flugs entworfenen Theoriemodelle, die vom Internet, von der Vernetzung aller Welten, vom Popdiskurs als zeitgemäße Sprache nach der Moderne ausgingen, lebten genauso vom Augenblick wie der selbstgenügsame Realismus der Romane. Einige reduzierten etwa das Phänomen „Pop“ auf das bloß Konsumistische, auf die affektive Besetzung eines bestimmten Mode-Labels: als ob im Ursprung des Pop nicht immer auch ein Aufbegehren, ein unmittelbares Lebensgefühl gewesen wäre. Die rhythmische, gesampelte Prosa von Thomas Meinecke, die nervösen Großstadtclips von Kathrin Röggla haben deswegen auch überhaupt nichts gemein mit den müden Posen eines Stuckrad-Barre oder Christian Kracht: Pop ist nicht gleich Pop. Das, worum es wirklich geht, entzieht sich den vorschnellen Zuordnungen.

Roman ohne Eigenschaften

Die größte Zumutung des Romans von Händler liegt vielleicht darin, dass er sich nicht um irgendeine dieser aktuellen Theorien des Schreibens schert, sondern an große literarische Weltentwürfe wie den von William Gaddis oder von Robert Musil anknüpft. Mit Musil hat er einiges gemeinsam: so wie dieser eigentlich Wissenschaftler war, ist Händler im wirklichen Leben Inhaber eines Wirtschaftsunternehmens. Die verschiedenen Sprechstimmen, die fachwissenschaftlichen Exkurse, die Neue Sachlichkeit abstrakter Begriffe und kühner Schnitte: Händlers Text erinnert in vielem an den „Mann ohne Eigenschaften“, den ersten großen Versuch, die Sprache der Wissenschaft und der Erkenntnistheorie mit der Sprache der Literatur zu verbinden. Und das ist in mehrfacher Hinsicht eine Provokation: hat doch der große Fernsehkritiker vor ein paar Wochen im „Spiegel“ Musil den Vorwurf gemacht, er schreibe nicht wie Thomas Mann. Händler beweist: Musil geht uns heute viel mehr an als Thomas Mann – weil er formal wie inhaltlich dem Rechnung trug, was das zwanzigste Jahrhundert vom neunzehnten unterschied.

Da Geschichte und Zeitgeschichte zuletzt wieder auf sich aufmerksam gemacht haben, gibt es plötzlich das Bewusstsein einer Krise. Und hier lag schon immer der Punkt, an dem die Literatur mehr Antworten wusste, als man ihr in bequemeren Zeiten zutraut. Es wäre von Vorteil, würde man sich den sperrigen Sätzen Händlers, seiner Beschreibung der Wirtschaftswelt stellen. Diese Entfremdung geht uns an. „Das Gebäude, das IT beherbergte, besaß die Form eines zur Hälfte in die Erde eingeschlagenen Keils. Mit Fenstern wie Schießscharten, man sah sie gar nicht von der Seite, berührte es den Kreis des Bürogebäudes wie eine Tangente. Wenn die Erde kochen würde, weil die anderen Fabriken sie zerrieben, würde das Gehirn der Fabrik einfach auf der Oberfläche der Erde schwimmen...“

Vor einem Jahr wurde der Roman „1979“ von Christian Kracht von vielen als Symbol gelesen, als Abgesang auf die Popliteratur und Dokument einer Krise: weil die Berluti-Schuhe, die dem Helden alles bedeuten, in einem chinesischen Straflager kaputtgehen. Doch dieser Abgesang auf das Leben des Luxus und der Moden mit den eindimensionalen Mitteln desselben greift zu kurz. Wenn Krachts Berluti-Schuhe sich schon längst im Nichts aufgelöst haben, kreisen die Produkte, um die es in Händlers Roman geht, immer noch eng und unberechenbar um die Erde. Und wie ein Meteorit können sie jederzeit einschlagen.

Ernst-Wilhelm Händler: Wenn wir sterben. Roman. Frankfurter Verlagsanstalt, Frankfurt am Main 2002. 475 Seiten, 25 €.

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