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Stunde der Frauen, Jahr der Männer. Fantasy-Weltenretterin Neytiri im Jahres-Hit „Avatar“. Kleine Fotos: Colin Firth in „A Single Man“ von Tom Ford, George Clooney mit Assistentin Anna Kendrick in „Up in the Air“ sowie Jesse Eisenberg als Senkrechtstarter Mark Zuckerberg im Facebook-Biopic „The Social Network“ . Foto: Fox, Senator, Paramount, Sony Pictures

© Fox

Rückblick: Ein ungewöhnliches Kinojahr

Wenig Besucher, viele Filme – und eine Mode namens 3-D: Ob sich ausgerechnet mit dem Prinzip Überangebot der Besucherschwund bekämpfen lässt?

Ach, ist das schön! Die jüngste Ausgabe der Zeitschrift „Neon“, die sich überwiegend an jüngere Leser wendet, singt auf zwei ganzen Seiten das Hohelied des Kinos. Unter dem zwar ironischen Motto „Esst mehr Popcorn!“ rühmt sie das Uralt-Event namens Kinobesuch mit Argumenten, die die Branche selbst immer wieder gern heranzieht. Nirgends sei man schöner auf einen Film konzentriert, nirgends schenke man dessen Erfindern so ungeteilt neunzig Minuten, ja, der Aufenthalt im Kinosaal sei eine Art Andacht, und: „Während uns der Bildschirm, egal wie groß, nur ein Fenster in die Welt anbietet, ist das Kino die Welt.“

Solch leidenschaftliches Plädoyer fürs „Solotasking“ lesen die Produzenten, Verleiher und Kinobetreiber, denen im Zeitalter der Monsterflatscreens und Massenraubkopien das jüngere Publikum von der großen Leinwand davonläuft, sicher mit besonderem Behagen. Zumal in einem Jahr, in dem sie vollauf damit beschäftigt sind, sich die Zahlen schön zu reden – und das nicht zum ersten Mal. Tatsächlich pendelt sich der Kinobesuch, nach fettem Start ins neue Jahrtausend, auf niedrigem Niveau ein: Nicht mindestens 150 Millionen jährlich verkaufte Tickets sind mehr die Erfolgsdevise, sondern bei Ergebnissen rund um 125 Millionen preist man seit Jahren tapfer die Verwaltung des Sockelbestands.

Diesmal nun kommt es offenbar besonders schlimm. Bis zum zweiten Weihnachtsfeiertag zählten die Statistiker von Rentrak EDI rund 115 Millionen Besucher. Eine Jahressumme von unter 120 Millionen wäre das schlechteste Ergebnis seit Menschengedenken. Prophylaktisch hat die stets um ein leinwandgefälliges Klima bemühte Branche Entlastungserklärungen zur Hand. Die heftige Delle wird in erster Linie mit den vier Wochen Fußball-WM erklärt, andere fügen feinsinnig an, mit 406 Filmen seien ja auch ganze 17 weniger als im Jahr zuvor gestartet. Zudem habe es, abgesehen vom alles überstrahlenden „Avatar“, an zündenden Blockbustern gefehlt.

Wie aber kommt’s, dass ausgerechnet Deutschland beim Gesamtergebnis schwächelt, während sich Großbritannien, Frankreich und Italien über Zuwachsraten freuen? Es ist der Marktanteil der einheimischen Filme, der den Unterschied macht. Hierzulande dürfte er bei mageren 14 Prozent landen und sich gegenüber dem Vorhjahr nahezu halbieren. Mit gefasstem Entsetzen blickt die Branche etwa auf das Häuflein der sogenannten Besuchermillionäre. Nur vier deutsche Produktionen – in guten Jahren sind es dreimal so viel – lockten mehr als eine Million Zuschauer: Markus Gollers OssiKomödie „Friendship!“, die 3-D-Produktionen „Konferenz der Tiere“ und „Resident Evil: Afterlife“ sowie Fatih Akins „Soul Kitchen“, der an Weihnachten 2009 startete.

Kein Titel dieses Quartetts erzielte mehr als anderthalb Millionen verkaufte Tickets. „Der deutsche Überflieger hat gefehlt“, klagt Stephan Hutter, Geschäftsführer des Münchner Prokino-Verleihs. Und Matthias Elwardt, Betreiber des Hamburger Abaton-Kinos: „Was fehlt, sind gute, publikumsstarke deutsche Filme.“ Umgekehrt ließe sich sagen: Wovon es zu viel gibt, das sind ehrgeizige, aber arg angestrengte, nicht zuletzt aus dem viel gerühmten Deutschen Filmförderfonds (DFFF) eifrig subventionierte und eilig ins Kino getriebene Produktionen. Nahezu Woche für Woche stahlen sie sich 2010 gegenseitig die Show.

Ob sich ausgerechnet mit dem Prinzip Überangebot der Besucherschwund bekämpfen lässt? Im Fall der 3-D-Filmschwemme, die das Kinojahr vor allem prägt, haben die höheren Ticketpreise zumindest die Bilanzen geglättet. Doch übers Jahr verbrauchte sich auch diese Mode schnell. Nur technisch bahnbrechende Filme, die im besten Fall wie „Avatar“ gleich ein neues Universum miterfinden, verführen die Zuschauer massenweise zum 3-D-Erlebnis. Ernüchterung folgte schon bei „Kampf der Titanen“, dessen schlechte 3-D-Qualität zu Zuschauerprotesten führte, und beim jüngsten „Harry Potter“ zog der Verleih kurz vorm Weltstart sogar die Notbremse: Lieber gar kein 3-D als schlechtes 3-D.

Nicht dass die Jubelchöre, mit denen die neue Dreidimensionalitäts-Welle zu Jahresbeginn begrüßt wurde, verstummt wären: Schon die enormen Umstellungsinvestitonen der Kinos erfordern entsprechende Begleitmusik. Man hört aber auch, der Boom, der die Zuschauer begeistert zur Extra-Brille und zum Abwurf der Extra-Euros trieb, sei schon wieder vorüber. Zudem rüstet auch hier die Heimkino-Industrie spürbar auf. Noch mag zwar ein breites Angebot an Filmen fehlen, aber schon in diesem Jahr haben sich über 100 000 Deutsche einen 3 D-Fernseher zugelegt. 2011, so wünschen es sich zumindest die Gerätehersteller, sollen es schon sieben Mal so viele sein.

Das gute, wahre, edle Kino aber, das „Neon“ besingt, wird durch alle Neuerungen, die seine bloße Transposition ins Wohnzimmer betreiben, kein bisschen überflüssiger. Vor allem für den Cineasten, der sich alldonnerstäglich mutig durch den Dschungel der Neutitel schlug, erwies sich das Angebot 2010 als erfreulich hochklassig. Wenn sich denn aus dem internationalen Sortiment ein Trend herauslesen lässt, so war es der zum anspruchsvollen Männerfilm. Von Sofia Coppolas „Somewhere“ zu Jacques Audiards „Ein Prophet“, von Tom Fords „A Single Man“ zum „Serious Man“ der Coen-Brüder: Überall führten sensible Sonden in die mal zart, mal existenziell bedrängte Männerseele. Auch aus Blockbuster-Hollywood kamen, etwa mit Jason Reitmans „Up in the Air“ und David Finchers „The Social Network“, durchaus tiefschürfende Signale. Und lässt sich nicht sogar Jahressieger „Avatar“ entsprechend lesen – mit dem gelähmten Marine Jake Sully, der in der Fantasy-Welt der Na’vi zu neuem Leben findet?

Geht es aber nach den Zahlen für jeden einzelnen Film, verhält das deutsche Publikum sich, anders als etwa das französische, vor allem bei den etwas Belastbarkeit fordernden Titeln oft beklagenswert scheu. Schon ein negativ besetzter Schlüsselbegriff in der öffentlichen Darstellung kann vom Kinobesuch abhalten – so jedenfalls deuten Verleiher und Kinoleute oft den Misserfolg von Filmen, denen sie selber einiges Potential zugetraut hatten. Was also, wenn „Der letzte schöne Herbsttag“ eher als Beziehungsproblemfilm denn als Komödie vermittelt wird? Oder was, wenn sich das – historisch verbürgte, aber im Film nicht gezeigte – tragische Ende der Mönche in „Von Menschen und Göttern“ im kollektiven Gedächntnis festsetzt und nicht ihr so imponierendes wie anrührendes Bekenntnis zur Freiheit der Wahl?

In diesen sensiblen Prozessen, die Händler und Werber schon mal zur Verschleierung von narrativen Kernelementen treiben, steckt ein problematischer Trend über Jahresläufe hinaus. Er deutet darauf hin, dass der Kinogeschmack in Deutschland – das sehen Produzenten, Verleiher und Kinobetreiber ähnlich – sich immer mehr zum Bedürfnis nach purer Ablenkung und Unterhaltung verengt. Nicht Auseinandersetzung und Analyse, sondern Spektakel und Stars: Das ist die Devise. Als ob ein guter Film nicht beides gleichzeitig böte. In einem solchen Umfeld kommen dann auch Filme wie „The Tourist“ von Florian Henckel von Donnersmarck vergleichsweise gut zurecht.

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