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Kultur: Ruhige Kugel

Eine Mond-Messe im Berliner Radialsystem

Bei Adam Green gehört dieser kosmische Blick zur Grundausstattung. Der New Yorker – ja was denn? Liedermacher? Folk-Dandy? Krawallpoet? – sitzt mit seiner Schlafzimmerfrisur wie angeheftet auf dem Barhocker, zupft die akustische Gitarre und singt aufreizend brav seine Songs vom Untergehen, von der Schönheit des Drogenkonsums und den „Friends of Mine“, die pophistorisch Lou Reed, Randy Newman und – angeblich auch – Bob Dylan heißen könnten. Adam Green, der geborene lunatic.

Er ist an diesem Abend im Berliner Radialsystem, den man nur als strange, very strange bezeichnen kann, das Mondkalb. Green schiebt ahnungslos-arrogant eine ruhige Kugel, während die 3sat-„Messe für den roten Mond“ eine lyrische Raketenstufe nach der anderen zündet. Ein Fernsehgottesdienst der gepflegten heidnischen Art, für ein paar hundert geladene Zuschauer in dem wunderbaren, raumschiffartigen Gebäude an der Spree, wo die Choreografin Sasha Waltz zu Hause ist.

Auch zwei Tänzer reihen sich in die Beschwörung ein, ein pas de deux im bestirnten Bühnenbild mit wallendem Nebel, Sandkratern und kreisrunder Video-Scheibe. Kultur als Naturersatz, nie war es so deutlich, was Georg Büchner in seinem „Woyzeck“ sagt. Der Himmel ist leer, Märchen sind erbarmungslos, der Blick nach oben schmerzt, und von hier unten kann man nicht fliehen.

Sophie Rois geistert durchs Bild. Sie spricht Arp und Eichendorff, mit ihrer kindlichen Großmutterstimme, bei der es einem gruselt. Sie sucht „The Beast in Me“ und lässt endlich ein verzweifeltes Mondgeheul los. Der Mond macht einsam. Barbara Sukowa sucht Trost bei Shakespeare und Robert Schumann. Sie stampft und schreit Patsy Clines „I Fall to Pieces“, als wär’s ein Stück von Patti Smith. Punk, Punk, Komma, Strich. Der Mond ist ein tätowierter Kahlkopf, kein Schöngeist.

Nur das Fernsehen bringt solchen Eklektizismus zustande. Der Schauspieler Hans-Michael Rehberg rezitiert Mondklassiker von Günter Eich und Goethe, die Sopranistin Christine Schäfer, begleitet von Julien Salemkour am Flügel, zelebriert den großen Ernst, die ungebrochene Pose in der kitschigen Mondlandschaft unter Scheinwerferbatterien und TV-Kameras; Schubert, Debussy und Alban Berg. Es liegen Welten zwischen einer großen Stimme und einer nicht kulturbetrieblichen Stimmung, nach der man sich zu sehnen beginnt. Adam Greens Reime („Carolina – Vagina“), Barbara Sukowas Urschrei der verlassenen Liebe: An einem solchen Abend scheiden sich die Geister, die Mondfahrer von 3sat bleiben Solisten, ein jeder in seiner Kapsel, die Rocker und die Kunstliedermacher.

Um 23.44 Uhr, zum Beginn der absoluten Mondfinsternis, wurde das einige Stunden zuvor im Radialsystem aufgezeichnete Programm ausgestrahlt. Und siehe, auf dem Bildschirm wirkte die Geschichte nicht mehr so strange. Aber gibt es im Fernsehen nicht jeden Abend irgendeine Finsternis?! Von den Himmelsphänomenen war in der verhangenen Nacht zum Sonntag in Berlin nichts zu erkennen.

Rüdiger Schaper

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