zum Hauptinhalt

Kultur: Russische Säle

Tschechow spielen, bis der Arzt kommt: Luk Percevals „Platonow“ an der Berliner Schaubühne

Warum haben diese kultivierten Menschen immer schlechte Laune? Weil sie die falsche Arbeit und mehr Kummer haben als Liebe, weil angeblich immer alles bleibt, wie es ist? Auf unergründliche Art und Weise scheint in den Dramen Tschechows die schlechte Laune (oder auch Melancholie) von den handfesten Sorgen der Existenz abgekoppelt. Möglicherweise ein Kulturphänomen. Und eine Erklärung, warum Tschechow uns in dieser ausgehenden Saison ausgiebig beschäftigt: Das Theater langweilt sich mit sich selbst.

In diesem Jahr, da die Giganten der modernen Dramaturgie runde Todestage feiern (Ibsen, Beckett, Brecht), erkennt man auch – Tschechow ist der Offenere. Das immer wieder unbeschriebene Blatt, ohne ideologische Wasserzeichen. Regisseur Luk Perceval und Bühnenbildnerin Annette Kurz geben seinem Erstling „Platonow“ – Tschechow schrieb das Stück mit Anfang Zwanzig – den riesigen Resonanzraum der Schaubühne bis in die Apsis hinein. Betonwände, Bretterboden, eine Tschechow-Installation mit kreuz und quer liegenden Eisenbahnschienen, Schulbänken, Stühlen, Klavieren. „La Paloma“, schön falsch gespielt, ist der Ohrwurm in dieser reichlich dreieinhalbstündigen Séance. Schreien und Schweigen. Hocken und Brüten. Brüllen und Rennen. Percevals Regie dreht sich mit aufreizender Langsamkeit in das Drama der Negativität hinein. Gewaltige (russische) Entfernungen sind von Mensch zu Mensch zurückzulegen, von Mann zu Frau. Und wenn sie nicht spielen, sitzen sie in der ersten Zuschauerreihe.

Also warum spielen alle „Platonow“? Und warum werfen sich die Frauen Platonow an den Hals? An der Schaubühne ist Thomas Badings Dorfschullehrer-Don Juan auch wieder nur ein Mann in Anführungszeichen. Meistens besoffen, vergrübelt, spricht er leise, starrt ins Leere, verzweifelter Ruhepunkt einer hypernervösen Gesellschaft. Was um Himmels willen sehen die Frauen in ihm? Er ist nicht sexy, auch nicht intellektuell anziehend, er hat das Leben verschlafen. Regisseur Perceval deutet an: Platonow, da er nun einmal so heißt, ist eine Art Höhlengleichnis. Ein Abglanz von Hoffnung. Die anderen jüngeren Männer: zappelige Neurotiker. Und die Frauen: am Rand der Karikatur, und darüber hinaus. Lea Dräger als Grekowa: ein kreischendes Gör mit hässlicher Brille. Yvon Jansen als Sofja, Gattin eines Freundes von Platonow und immer noch in den Schweiger verliebt: Sie wird im Handumdrehen zur bissigen Zicke.

All diese Figuren sind pure Behauptungen. Theatralische Artefakte hingezirkelter Hässlichkeit. Ulrike Zemmes Übersetzung – in der Fassung der Schaubühne – sagt „Titten“ und „ficken“ und klingt auch sonst irgendwie heutig. Doch hält eigentlich nur die Generalswitwe Anna Petrowna die Spannung zwischen historisierendem Ambiente (Kostüme: Ursula Renzenbrink) und einem Tschechow anno 2006 aus. Karin Neuhäuser knallt eine rheinische Frohnatur, Puffmutter, alternde Geliebte mit wunderbarem Hang zu lebensnahen Weisheiten auf die Bretter („Man kann auch ohne Spaß Alkohol haben“; „Dich liebt eine Frau, das Wetter ist klasse, wo ist das Problem?“).

Neben der Künstlichkeit, der Vorhersehbarkeit der Elendsetüden ist das Problem dieses „Platonow“, dass die Alten das Sagen haben. Auch wenn sie schweigen oder was Russisches murmeln, wie Horst Hiemer, der alkoholisierte, pensionierte Oberst Trilezkij, ganz zu Beginn. Tschechows Erstling läuft gelegentlich unter dem Titel „Die Vaterlosen“ (wie in Stefan Puchers Volksbühnen-DJ-Version). Bei Luk Perceval sind sie jetzt überhaupt nicht vaterlos, im Gegenteil. Man schaue sich nur an, wie Thomas Thieme dasitzt, der Pferdedieb, der Schläger; massig, bedrohlich, animalisch. Man kann da auch mal zuhören, einen Satz sacken lassen. Die Alten haben verloren, aber sie gewinnen. Kontur und Schärfe.

Vielleicht ist das unser Grundproblem: Die Jüngeren, die auch schon nicht mehr richtig jung sind, also die 35- bis 50 Jährigen, wie Luk Perceval, machen ein Theater zwischen den Zeiten. Ein 2500 Jahre altes Medium lebt mit Tschechow seine Midlife-Krise aus. Percevals Menschen stolpern über die Schienen, aber kein Zug kommt. Sie sind betrunken, ohne einen Schluck zu trinken. Sie langweilen sich zu Tode – und geben dieses Gefühl mit vollen Händen an das Publikum weiter.

Wieder vom 3. bis 5. Juni

Rüdiger Schaper

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false