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Kultur: Russland unter Eis: Tödliche Kälte

Die Miliz war schneller: "Macht keinen Unsinn, Leute, geht nach Hause", Männer in Pickelhauben mit Gummiknüppeln in den Händen verleihen dem Befehl ihres Kommandeurs Nachdruck, und harte Männerfäuste packen besonders Unschlüssige bei den Schultern. Umsonst war der Weg durch den kniehohen, hart gefrorenen Schnee, durch den die Frauen der Siedlung Rasdolnoje, an jeder Hand ein schlaftrunkenes Kind, in tiefer Nacht voran stolperten.

Die Miliz war schneller: "Macht keinen Unsinn, Leute, geht nach Hause", Männer in Pickelhauben mit Gummiknüppeln in den Händen verleihen dem Befehl ihres Kommandeurs Nachdruck, und harte Männerfäuste packen besonders Unschlüssige bei den Schultern. Umsonst war der Weg durch den kniehohen, hart gefrorenen Schnee, durch den die Frauen der Siedlung Rasdolnoje, an jeder Hand ein schlaftrunkenes Kind, in tiefer Nacht voran stolperten.

Sie wollten sich auf Umwegen bis zum Schienenstrang vorarbeiten und die Züge der Transsibirischen Eisenbahn zum Halten zwingen, um auf ihre Probleme aufmerksam zu machen: Selbstverständlichkeiten wie Wärme, eine dampfende Suppe oder wenigstens heißer Tee sind für Zehntausende in Russisch-Wildost unerreichbarer Luxus.

Mit vier Decken im Bett

Gleich werde ich aufwachen, denkt Marija Iwanowna, gleich: Mutter Gottes, das ist doch alles nur ein Albtraum. Die heilige Jungfrau, Marijas Namensgeberin, reagiert prompt. Doch der Albtraum ist keineswegs zu Ende, er fängt jetzt erst richtig an: Marija Iwanowna ist durch die Kälte aufgewacht, die sich durch den Wintermantel und vier Decken gefressen hat und nun in ihre Füße kriecht. Kalt glitzert im Mondlicht die zu Raureif erstarrte Atemluft der alten Frau auf den Tapeten im Schlafzimmer, wo das Thermometer seit Wochen mit konstanter Bosheit auf Marken um den Gefrierpunkt verharrt.

Ein Schicksal, das Marija Iwanowna mit Zehntausenden in der Pazifikregion teilt. Warmes Wasser kam hier letztmalig im vergangenen Mai aus dem Hahn, die Heizkörper blieben kalt, obwohl die Heizperiode planmäßig am 15. Oktober beginnen sollte. Im Dezember versiegte das Gas, seit Anfang Januar kommt auch der Strom nur noch für höchstens vier Stunden täglich. Obwohl Väterchen Frost erbarmungslos zuschlägt.

Schulen, Behörden und Betriebe machen zwangsweise blau. Mit Einbruch der Dunkelheit erstirbt sogar in Wladiwostok, der Hauptstadt der Region, auf den ohnehin fast leeren Straßen jedes Leben. Nur hin und wieder stolpern Frauen, in dicken Pelzen eingemummt und mit tief ins Gesicht gezogen Strickmützen, flackernden Lichtern entgegen: Brotläden, in denen die Verkäuferinnen die Kundschaft bei Kerzenschein bedienen und die Ware mit Fausthandschuhen greifen, über die sie aus Gründen der Hygiene eine Zellophantüte gestreift haben.

Tag und Nacht brennen in Wladiwostok auf allen größeren Plätzen und in den Höfen unzählige Lagerfeuer, an denen ganze Familien ihr Essen und sich selbst aufwärmen. Sie kampieren dort mit Sack und Pack, um wenigstens ein bisschen Wärme zu erhaschen und einen heißen Tee zu trinken. Ex-Bürgermeister Viktor Tscherebkow sagte dem örtlichen Fernsehen, es seien bereits Menschen in ihren Wohnungen erfroren.

Ein zehnjähriger Junge erklärt TV-Reportern aus Moskau, seine Mutter stehe täglich um zwei Uhr in der Nacht auf und warte, bis irgendwann am frühen Morgen Strom kommt, um Suppe zu kochen. Die wärmt die Familie dann auf, wenn es im Laufe des Tages wieder mal kurzzeitig Strom gibt. Ansonsten wird kalt gegessen. Wenn es denn gelingt, die Eisdecke aufzuhacken, die sich inzwischen auf dem Topf gebildet hat.

Schon Anfang November fiel das Thermometer erstmalig auf minus 20 Grad. Eine offenbar magische Grenze, über die die Quecksilbersäule in diesem Winter bisher nie mehr hinauskam. Seit Jahresbeginn quält sie sich sogar in gefährlicher Nähe zu 40 Grad dahin.

Heizkörper brechen wie Glas

Selbst die ältesten Bewohner der unwirtlichen Gegend können sich an eine derartige Kältewelle nicht erinnern. Und ein Ende ist nicht absehbar: Die Wettervorhersagen schließen einen baldigen Umschwung aus. Das sibirische Kontinentalklima bringt höchst beständige Hochdruckgebiete hervor. Die Nachbarregionen können daher nur bedingt helfen. Auch ihre Wintervorräte an Kohle sind bedenklich zusammengeschmolzen. In den Kraftwerken arbeitet momentan nur jede dritte Turbine. Sogar die Stromer in der Siedlung Lustchigorsk, die Mitte der Sechziger als Erbauer einer lichten Zukunft auf die Großbaustelle des Kommunismus zogen, haben nur Petroleumlampen.

Zwar gelang es in einigen Landkreisen inzwischen, die Fernwärmeversorgung wieder notdürftig in Gang zu setzen. Doch die Freude darüber währt meist nur kurz: Rohre und Heizkörper brechen bei plötzlicher Erwärmung wie Glas. Ganze Wohnungen standen in Minuten unter Wasser, Fußboden, Teppich, Möbel, das meiste davon noch zu Sowjetzeiten gekauft, war dahin. Die für eine Wiederbeschaffung erforderlichen Summen aber haben im postkommunistischen Russland Größenordnungen erreicht, die für die meisten jenseits von Gut und Böse liegen.

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