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Marina Davydovas Theaterperformance „Museum of Uncounted Voices“ ist ab Mittwoch in Berlin zu sehen.

© Victoria Nazarova

Russland verstehen: Die Theatermacherin und Kriegsgegnerin Marina Davydova

Sie ist Tochter eines Armeniers und einer Russin: Begegnung mit Marina Davydova, die als Putin-Kritikerin Moskau verlassen musste und am Berliner HAU ihre Arbeit „Museum of Uncounted Voices“ zeigt.

Wenn man Marina Davydova beim Gespräch in einem Charlottenburger Café fragt, ob die Menschen im Westen sich Illusionen über die russische Gesellschaft machten, muss sie fast lachen. „Viele“, entgegnet sie. „Jede Menge.“ Sicher, wer beispielsweise als Berliner:in durch Moskau spaziere, könne den Eindruck gewinnen, das Leben dort sei nach den eigenen Auffassungen von Alltag, Struktur und Kultur zu beurteilen. All die Theater, Konzertsäle, Konservatorien, die tollen Restaurants, die Menschen auf der Straße in modernen Outfits.

Aber das, sagt Davydova, „ist nur die dünnste Oberflächenschicht eines Ozeans der russischen Gesellschaft“. Deren Prägungen und Traditionen stammten indes aus tiefster Vergangenheit, aus der Zeit der Goldenen Horde – dem mongolischen Mittelalter. Und natürlich sei auch das nur ein Aspekt in einem hochkomplexen historischen Gefüge.

Wenn Länder streiten

Die Theaterwissenschaftlerin und Theatermacherin Marina Davydova, geboren im aserbaidschanischen Baku, lädt jetzt zu einer Begegnung mit der russischen Geschichte ein. In Berlin zeigt sie die HAU-Auftragsarbeit „Museum of Uncounted Voices“, die im Frühjahr bei den Wiener Festwochen Premiere gefeiert hatte und Räume für einen Widerstreit der Perspektiven öffnet.

Es geht um Zarenreiche und Nationenbildung, um Gründung und Zerfall der Sowjetunion. In einer Passage geraten etwa (aus dem Off) die ehemaligen Sowjetrepubliken Ukraine, Belarus, Georgien, Aserbaidschan und Armenien in Streit darüber, wer die tiefsten Wunden aus der Vergangenheit davongetragen hat, während die Besucher:innen sich um Ausstellungskästen versammeln, die mit Trachten und anderem Landestypischen bestückt sind. Wahrheit wird hier gleich mehrfach zur Ansichtssache.

„Ich fand schon immer, dass Museen eine besondere performative Kraft haben“, erzählt Davydova. Sie habe sich oft beim Wandern durch die verschiedenen Räume unter einem Dach vorgestellt, „wie all die Objekte und die Gesichter an der Wand zum Leben erwachen und miteinander zu diskutieren beginnen“. Entsprechend baut ihre Arbeit nun Narrative auf und gibt Ideologien eine Stimme, nur um sie gleich darauf wieder zu dekonstruieren. Bis am Ende Davydovas ganz eigene Geschichte alles zuvor Gehörte noch einmal ganz neu in Frage stellt.

Die Tochter eines Armeniers und einer Russin hat als Studentin in Moskau Ende der 1980er, Anfang der 1990er mit Gleichgesinnten für das Ende der Sowjetunion gekämpft. Es war aber genau dieser Zerfall des Imperiums – von Putin bekanntlich als größte geopolitische Katastrophe des Jahrhunderts beklagt –, der in Aserbaidschan ein neuntätiges Pogrom an der armenischen Bevölkerung in Gang setzte. Davydova nennt das ein „brutales Paradox“. Die vermeintliche Freiheit bedeutete einen Heimatverlust.

Unterdessen musste sie als erklärte Kriegsgegnerin auch aus Putins Russland fliehen, wo sie eine der wichtigsten Stimmen des zeitgenössischen Theaters war. Sie hat das NET Festival gegründet und 23 Jahre lang geleitet, das europäische Regisseur:innen wie Thomas Ostermeier, Katie Mitchell oder Alvis Hermanis nach Moskau brachte, sie war Chefredakteurin der Zeitschrift „Teatr“. Mit der jüngsten Ausgabe war Davydova am 24. Februar 2022, dem Beginn von Putins jüngstem Angriffskrieg auf die Ukraine, gerade zugange. Sie wurde dann auf Druck des Kulturministeriums „ausgesetzt“, so der offizielle Jargon. Und das Festival hatte sich von selbst erledigt. „Wen hätten wir noch einladen sollen, wer wäre noch gekommen?“.

Alle wichtigen Institutionen des russischen Theaterlebens sind verschwunden. Das Gogol-Center von Kiril Serebrennikov, ebenso die „Goldene Maske“, die nicht nur ein bedeutender Theaterpreis, sondern ein Schirm für eine Vielzahl von kulturellen Aktivitäten und Bildungsprojekten war. Womit, so Davydova, eine Blütezeit abgewürgt wurde: „In den vergangenen zehn Jahren sind all die Trends und Tendenzen des europäischen Theaters auch auf den russischen Bühnen sichtbar geworden – aber oft noch einfallsreicher, unvorhersehbarer“.

Warum ausgerechnet das Theater systematisch zerstört worden ist, das doch im Gegensatz zu den staatlichen Fernsehkanälen und sozialen Medien kein Massenpublikum erreicht, ist für Davydova leicht zu erklären: „Sie konnten die Existenz dieser Insel von Freiheit, liberalen Ideen und westlichem Denken einfach nicht ertragen“.

Marina Davydova lebt mittlerweile in Berlin, im kommenden Jahr wird sie die Schauspieldirektorin der Salzburger Festspiele. Sie sagt, dass sie über Arbeit, Alltag und Behördengänge bisweilen vergesse, dass sie im Exil lebe. Aber an der Tatsache gebe es nichts zu rütteln, so wohl sie sich in Berlin auch fühle. „Vielleicht ist es mein Schicksal, überall im Exil zu sein“, überlegt sie. Ohne diese zweite Emigration sei eine Arbeit wie „Museum of Uncounted Voices“ nicht möglich gewesen. „Ich hätte nicht so unverstellt auf mein vorvorheriges Leben blicken können.“

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