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Kultur: Sängerkrieg der Seehasen

Alle fünf Jahre stimmen die Esten beim „Laulupidu“-Fest ein Loblied an – auf sich selbst

Mit Volksliedern ist es so eine Sache: Es braucht schon den Resonanzraum eines stolzgeschwellten Volkskörpers, um dem zugehörigen Lied Klang zu verleihen. Wo dagegen ethnische Herkunft als Identifikation ausgedient hat, werden auch die Stimmen dünn. Deshalb feiert Deutschland zwar mit einiger Hingabe Feste wie den „Karneval der Kulturen“, tut sich jedoch mit der Pflege der eigenen Folklore schwer. Wer kennt schon noch deutsche Volkslieder? Das Volk hat sich abgeschafft in diesem Land, und mit ihm ist das Lied verschwunden.

Wer das für ein allgemeines Phänomen des aufgeklärten Europa hält, der irrt. Eine Fährfahrt von Rostock entfernt liegt Tallinn, wo am vergangenen Wochenende das traditionelle „Laulupidu“ gefeiert wurde – ein gigantisches Festival der estnischen Volkskultur. Alle fünf Jahre verwandelt sich dort ein Land, das in jüngerer Zeit eher durch sein Beharren auf HighTech-Fortschritt und kompromisslose Marktwirtschaft von sich reden machte, in eine Trachtengalerie mit flächendeckender Volksliedbeschallung. Selbst die jüngere Generation tauscht dann Bluetooth- Handys und Markenturnschuhe gegen die Nationalkostüme der estnischen Regionen ein. Die Straßen füllen sich mit den Nachfahren jener estnischen Emigranten, die auf der Flucht vor faschistischen oder sowjetischen Besatzungstruppen das Land verlassen hatten, und deren Kinder nun zurück nach Tallinn strömen, um mit kanadischem oder neuseeländischem Akzent estnisches Liedgut zu intonieren. Derweil beschwören Landespräsident Arnold Rüütel und Premierminister Juhan Parts – die sich noch vor kurzem den Mund fusselig reden mussten, um ihr Volk von einer Souveränitätsabgabe unter das Banner der EU zu überzeugen – salbungsvoll den nationalen Zusammenhalt.

Rund 300000 Besucher und 30000 Sänger zieht das Liederfest alle fünf Jahre nach Tallinn – ein knappes Viertel der estnischen Gesamtbevölkerung. Man versuche nur mal, sich vorzustellen, wie 20 Millionen Deutsche in Lederhosen den Tiergarten überrennen, um gemeinsam „Kein schöner Land“ anzustimmen. Weit kommt man damit nicht. Dabei geht das estnische Laulupidu-Fest ursprünglich sogar auf die Tradition deutscher Gesangsvereine zurück: Der Publizist Johann Voldemar Jannsen organisierte 1869 das erste Liederfest in Tartu. Schnell wurde das Laulupidu-Fest zur Plattform des aufblühenden estnischen Nationalbewusstseins nach jahrhundertelanger Fremdherrschaft durch Deutsche und Russen. Ein von Jannsen verfasstes Lied namens „Mu isamaa, mu õnn ja rõõm“ („Mein Vaterland, mein Glück und meine Freude“) wurde nach der ersten Unabhängigkeitserklärung von 1918 zur estnischen Nationalhymne, ein Stück von Jannsens Tochter, der Nationaldichterin Lydia Koidula, stellt bis heute eine Art inoffizielle Hymne dar, mit der das Festival traditionell abgeschlossen wird: „Mein Vaterland ist meine Liebe“.

Auch als Estland seine Souveränität einbüßte und zum Teil der Sowjetunion wurde, blieb das Liederfestival bestehen, wenn auch in entstellter Form: Zwar ließ die Sowjetverwaltung 1957 das Lauluväljak-Stadion bauen, das bis heute als Spielort des Festivals dient. Gleichzeitig jedoch wurde die Veranstaltung strikten Auflagen unterworfen: Ein Großteil der patriotischen Lieder verschwand aus dem Programm, stattdessen wurden Arbeiterhymnen und Darbietungen von pan-sowjetischen Folkloregruppen integriert. Bis 1985 wurde das Singen des Koidula-Liedes „Mein Vaterland ist meine Liebe“ mit Zwangsarbeit in Sibirien bestraft.

Seine heutige identitätsstiftende Wirkung erlangte das Fest jedoch erst mit der Loslösung von der Sowjetunion: 1988 versammelten sich 300000 Esten auf dem Laulupidu-Gelände, um für die Unabhängigkeit zu demonstrieren. Dabei sangen sie die alten Volkslieder, darunter auch die verbotene Nationalhymne. Zum zweiten Mal in ihrer Geschichte, so will es die Legende, ersangen sich die Esten den Weg in die Unabhängigkeit. Weil dabei kein einziger Tropfen Blut floss, erhielt das Festival von 1988 den Beinamen „die singende Revolution“.

Seitdem wurde das Liederfest, wie die estnische Gesellschaft überhaupt, gründlich von russischen Beigeschmäckern gesäubert. Russische Muttersprachler stellen heute ein knappes Drittel der estnischen Bevölkerung – beim Liederfest war davon wenig zu hören. Lediglich im Rahmen des parallel stattfindenden Volkstanz-Festivals „Tantsupidu“, das choreographisch im Zeichen des Waldes stand, durfte ein verloren wirkendes russisches Ensemble symbolisch den einsamen Baum im estnischen Wald verkörpern.

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