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Sängerin, Cellistin, Schauspielerin. Salome Kammer, die in Edgar Reitz’ Film „Die zweite Heimat“ die große Liebe des Protagonisten Hermann spielte.

© Andreas Ludwig

Salome Kammer: "Ich muss richtig wütend sein"

Vor der Premiere von "Exercises du silence" im Schillertheater: die Stimmartistin Salome Kammer über das Körpergefühl beim Singen und Brice Pausets Solodrama einer radikalen Mysterikerin.

Frau Kammer, Sie haben das Monodram „Exercices du silence“ 2009 an der Pariser Opéra de Bastille konzertant uraufgeführt. Jetzt, am Schillertheater, führt Reinhild Hoffmann Regie. Schreit Brice Pausets Musik nach der Bühne?

In gewisser Weise ja. Einerseits definiert die Partitur den Raum, auch indem sie mit Live-Elektronik arbeitet, es entsteht ein Klangkörper, der die Zuschauer ins Innere der Louise de Néant versetzt, ganz physisch. Und andererseits haben die Exerzitien, um die es hier geht, etwas extrem Masochistisches. Diese Qual, diese Verzückung im Schmerz darstellen zu können, dafür brauche ich den ganzen Körper. Mich hat die Idee, mit einer Choreografin zusammen zu arbeiten, von Anfang an überzeugt.

Louise de Néant ist eine Mystikerin und junge Adelige im 16. Jahrhundert, die auf radikale Weise die Nähe zu Gott sucht. Ist ein solches Thema, eine solche Frauenfigur heute nicht wahnsinnig exotisch?

Ich habe mich natürlich auch gefragt, warum ausgerechnet ich evangelische Pfarrerstochter so etwas singen soll. Die Antwort habe ich erstens in der Musik gesucht, und zweitens habe ich mich in die Hände von Reinhild Hoffmann begeben – denn das ist doch das Thema: Hingabe, sich mit Leidenschaft einer Sache hingeben. Mit der ganzen Kraft und Inbrunst und Fantasie, die man hat. Eine andere Chance als die künstlerische hatte ich nicht. Ich selber bin nicht der Typ, der sich gerne quält oder kasteit.

Das heißt, das Stück verlangt seiner Protagonistin genau das ab, was Louise sich selbst abverlangt hat?

Ja, wobei das Interessante die Distanz ist. Natürlich ist es die reine Qual, sture Disziplin, eine solche Partie auswendig zu lernen. Diese zerhackte Sprache, dieses altertümliche Französisch, diese hoch komplizierten Rhythmen! Und natürlich ist es rasend anstrengend, 60 Minuten allein auf der Bühne zu stehen, ich habe ja keine Mitstreiter. Es gibt den Pianisten, der sich auf seine Noten konzentrieren muss – und Punkt. All das verhindert aber auch jedes romantische Durchleben, jedes Versinken meinerseits in der Seele der Louise. Insofern ist es ein aufgeklärtes Stück Musiktheater, das gefällt mir.

14 Stationen, während derer eine Frau sich schlagen lässt oder die aufgebrochenen Geschwüre anderer ableckt ...

... auch hier ist Distanz wichtig. Brice Pauset hat das Stück für mich geschrieben, weil er dezidiert eine Nicht-Französin wollte. Ich verstehe die Briefe und Beichten der Louise, mein Französisch ist nicht schlecht, aber es findet doch immer ein Übersetzungsvorgang statt, und auf den kommt es an. In Reinhild Hoffmanns Inszenierung ist das ähnlich. Wir zeigen nicht die Irrenanstalt, in die Louise gebracht wurde, und wir zeigen auch sonst keine naturalistischen Grausamkeiten.

Stimmlich ist die Louise extrem, sehr geräuschhaft auch und lautlich. Schadet das der Stimme?

Nein! Ich habe diese Musik jetzt sechs Wochen lang probiert und mir geht’s prächtig. Das ist sicher eine Frage der Technik. Aber es liegt auch daran, dass ich vor verrückten Sachen keine Angst habe. Wenn man Angst hat, dann verkrampft alles, dann gibt es zu viel Druck – und dann wird man anfällig. Meine Einstellung zu den Affekten und Emotionen muss stimmen, ich darf nicht nur so tun, als sei ich wütend, ich muss wütend sein, dann macht der Körper alles richtig.

Was steht am Ende der „Exercices“: Erleuchtung, Erlösung?

Für die Sängerin auf jeden Fall... Nein, die Musik hebt schon ab, da herrscht so etwas wie Trance. Louise will ja verrückt sein um jeden Preis, sie will zur Linken Gottes sitzen, will Braut Christi sein, was übrigens ganz stark sexuell konnotiert ist. Ekstase bedeutet für sie: im Innersten berührt werden, Höhepunkt, Verschmelzung, Orgasmus. Für den Schluss hingegen setzt Brice Pauset das Theremin ein, eines der frühen elektronischen Instrumente, da hört man eigentlich nur die Schwingung zwischen zwei Magnetfeldern, also etwas sehr Körperloses, Transzendentes.

Als Sängerin und Stimmkünstlerin arbeiten Sie meist in der freien Szene. Wie fühlt sich für Sie ein Staatstheater an?

Die „Exercises“ werden in der Werkstatt des Schillertheaters gezeigt – das ist wie freie Szene. Sie ist ja nicht renoviert worden, die Garderoben zum Beispiel befinden sich in einem ziemlich jämmerlichen Zustand. Also ein echtes Staatsopern-Feeling stelle ich mir anders vor. Aber ich will nicht klagen. Ich freue mich auf die sechs Vorstellungen, denn die sind wirklich Luxus: Sechs Vorstellungen, das gibt es bei neuen Stücken so gut wie nie!

Und wenn Sie sich danach dann etwas wünschen dürften ...

... dann wünsche ich mir, dass ich die Louise noch ein, zwei, drei, vier Mal machen kann. Und fürs nächste Stück etwas Komödiantisches. Das ist in der so genannten Neuen Musik natürlich nicht einfach, aber das möchte ich auf der Bühne unbedingt mehr ausleben.

Das Gespräch führte Christine Lemke-Matwey. Brice Pausets „Exercises du silence“ mit Salome Kammer werden ab dem heutigen Samstag sechs Mal jeweils um 20 Uhr in der Werkstatt des Berliner Schillertheaters gezeigt.

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