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Kultur: Salto vitale...

Natürlich ist Humboldts „Kosmos“ in der „Anderen Bibliothek“ auch ein überwiegend nur durchgeblättertes, kaum ganz zu lesendes coffee table book. Aber das schmälert noch nicht die mögliche Symbolkraft.

Natürlich ist Humboldts „Kosmos“ in der „Anderen Bibliothek“ auch ein überwiegend nur durchgeblättertes, kaum ganz zu lesendes coffee table book. Aber das schmälert noch nicht die mögliche Symbolkraft. Inmitten zäher Reformversuche im zersplitterten deutschen Bildungswesen, die wie alle Veränderungen in komplexen Systemen nicht mit revolutionärer Schnelligkeit geschehen, könnte sich das HumboldtProjekt zumindest als anstiftende Übersprunghandlung erweisen.

Die Idee, mit dieser elitär-populären Promotion Humboldts den Gedanken eines selbstbewusst neugierigen Aufbruchs in die Welt und des Grenzen überschreitenden, forschenden, erfinderischen, universell vernetzenden Wissens gerade jetzt wieder wachzurufen, gleicht einem Salto vitale: in die Gegenwart und in eine aus der Erstarrung erwachende Gesellschaft. Nehmen wir nur den Fußball und Jürgen Klinsmann.

Nach der netten, den deutschen Nationalsport freilich nicht erneuernden Völlerei, plant Klinsmann offenbar einen anderen Kick. Der Mann hat erkannt, dass der ewig mangelnde Spielwitz auch eine Frage der geistigen Beweglichkeit, der mentalen Souveränität ist, dass also der Kopf den Spielern Beine macht. Doch schon mehr als mit den amerikanischen Psycho-Dynamikern – sie gehören zu Klinsmanns interdisziplinärem „Universalismus“ – hat der Neue mit der verrücktesten und zugleich vernünftigsten Losung bewegt: „Wir wollen 2006 Weltmeister werden.“ Bei einem weniger intelligenten Auftritt hätte diese Zielsetzung, kurz nach dem EM-Debakel und jahrelangem Niedergang, nur wie ein schlechter Scherz gewirkt. Das schien auch undeutsch, weil eher amerikanisch pionierhaft gedacht. Und war sehr humboldtisch.

Ein vitaler Übersprung. Zwar muss die Grundierung – bei Humboldt die Vermessung des übersprungenen eigenen Schattens – folgen. Es geht als Herausforderung indes: um die bewusste Überforderung. Humboldt, ein von Hause aus kränkelnder, effeminiert eleganter Mann, ist blutig zerschunden ins ewige Eis emporgekrochen und hat sich durch Fiebertropen geschlagen: Die ständige, überschreitende Anstrengung hat ihn immer wieder kuriert und 90 Jahre lang am Leben gehalten. Ein empirischer Vitalist, aber ein geistiger Eroberer. Kein Kolonisator, kein Krieger, kein deutscher Übermensch- Denker, sondern in allen Wissenschaften ein poetischer, pädagogischer Kopf.

Hierzu als aktuelle deutsche Momentaufnahme ein anderes, musikalisch-pädagogisches Beispiel: Zur Zeit begeistert der Kinofilm „Rhythm Is It“, der von Simon Rattle, den Berliner Philharmonikern und ihrem Zusammenwirken mit 250 Berliner Schülern bei einer Inszenierung von Strawinskys „Sacre du printemps“ erzählt. Hierin gibt es eine Schlüsselszene. Rattles Freund, der englische Tanzlehrer Royston Maldoom, kritisiert auf Proben mehrfach die mangelnde Energie und Disziplinlosigkeit der deutschen Hauptschüler. Schließlich wirft sich die (sympathische) Berliner Schullehrerin vor ihre Jungen und Mädchen: Sie seien durch die ungewohnten Anforderungen erschöpft und im Moment überfordert. Da kontert der Brite: Im Gegenteil, sie sind so faul und schwach, weil sie unterfordert sind! Das wirkt – wie ein Generalangriff auf das deutsche Bildungssystem, ja auf die deutsche Seelenlage. Und die Kopfwäsche macht den Schlaffen Beine, das Projekt bringt die Verhältnisse wenigstens hier: triumphal zum Tanzen.

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