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Sammlung Scharf-Gerstenberg: Zuflucht in verrückten Bildern

Spielwitz und Erfindungsgeist: Die Charlottenburger Sammlung Scharf-Gerstenberg zeigt Aquarelle und Objekte des Surrealisten André Thomkins.

In der Ukraine wütet es wieder, das „Trampeltier, das alles, was ihm in den Weg kommt, zerstört und vernichtet“, wie Max Ernst seine „Hausengel“-Allegorie beschrieb. Eine der drei 1937 von Ernst unter dem Eindruck des Spanischen Bürgerkriegs geschaffenen Gemäldeversionen hängt in der Berliner Sammlung Scharf-Gerstenberg.

„Der Hausengel (Zweite Version)“ zeigt nur den Kopf des zähnefletschenden Monsters, das sichtbare Auge zugekniffen, ein Urbild blindwütiger Aggression. Im Treppenhaus des östlichen Stülerbaus ist zusätzlich noch bis Ende April eine animierte „Vierte Fassung“ (2019) des französischen Gegenwartskünstlers Cyprien Gaillard zu sehen.

Das Museum der Stunde

Kunstbetrachtung im Krisenmodus. Mit dem hauseigenen Fokus auf Surrealismus, Symbolismus und Vorläufer wird die Sammlung Scharf-Gerstenberg gerade zum Museum der Stunde. Ob Piranesis schwindelerregende „Carceri“-Radierungen, Goyas bissiger „Los Caprichos“-Zyklus oder eben Ernsts Todesengel – wie durch einen Spiegel erblickt man die eigene zerrüttete Zeit. Ohne eine gehörige Dosis Humor wär's nicht zu ertragen.

Deshalb ist die neue Sonderschau mit Werken von André Thomkins (1930-1985) dringend zu empfehlen, denn der Schweizer begegnete den Zumutungen der Wirklichkeit mit Spielwitz und Erfindungsreichtum. Sein wie er in Luzern geborener Freund Serge Stauffer, bekannt durch seine Übersetzungen von Duchamp-Texten, nannte Thomkins nach dem Erfinder, Techniker und Künstler der griechischen Mythologie „Daedalus meandertaler“.

André Thomkins, Knopfei, 1958/1977.
André Thomkins, Knopfei, 1958/1977.

© Stefan Altenburger Photography, Zürich, The Estate of André Thomkins

Thomkins war einer, der sich stilistisch und technisch nicht festlegte und daher bis heute unter dem Radar der Kunstöffentlichkeit „mäandert“, ein Künstler-Künstler, von dem sein Lehrer an der Kunstgewerbeschule in Luzern einmal treffend bemerkte, sein Werk ähnele dem Nachlass eines klassischen Malers, dessen Hauptwerke verloren gegangen seien.

Bilder, wie aus einem Traum

Rund 170 Zeichnungen, Malereien und Objekte sind in der Retrospektive des zweimaligen Documenta-Teilnehmers zu sehen, der ab 1952 im Ruhrgebiet lebte und Professor an der Düsseldorfer Akademie war. Das letzte Foto zeigt ihn im Gespräch mit Joseph Beuys auf der Jahresversammlung der Berliner Akademie der Künste am 9. November 1985. Am selben Abend stirbt Thomkins an Herzversagen, mit bloß 55 Jahren.

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Thomkins liebte das Kleinformat. Vor allem seine hochkomplexen Aquarelle zeigen, wie er auf kleinstem Raum gewaltige Welten entwerfen konnte. Als Nachfolger der Surrealisten der Vorkriegszeit schuf er traumklare Bildräume, deren Gesetzmäßigkeiten und Bedeutungen nur ansatzweise zu entschlüsseln sind.

Für seine Verhältnisse ungewöhnlich groß ist mit 80 Zentimetern Durchmesser das Ölbild „Die Mühlen“ von 1962. In dem Rundbild kombiniert Thomkins wie in einer Riesenblase autobiografische Stationen mit zeitgeschichtlichen Nebensächlichkeiten, vom Hochsprungrekord bis zum Autorennen.

[Sammlung Scharf-Gerstenberg, Schloßstraße 70, bis 24. Juli, Di-Fr 10-18 Uhr, Sa+So 11-18 Uhr]

In der malerischen Präzision und formalen Anlage schließen „Die Mühlen“ an Hieronymus Bosch’ Weltdarstellung in Segmenten des „Madrider Altars“ (Ende des 15. Jahrhunderts) an. Das Mühlen-Symbol taucht wiederholt in der Ausstellung auf, so in Gestalt eines kuriosen Objekts „Mühlen-Mahl-Gebet Inspiration“, dessen aus Hartweizennudeln konstruiertes Mahlwerk durch einen Blasebalg in Gang gesetzt werden kann.

Knöpfe an Hühnereier nähen

„Der Kopf ist rund, damit das Denken die Richtung wechseln kann“, gemäß diesem Spruch von Francis Picabia zelebrierte Thomkins das irrlichternde Denken, einen hakenschlagenden Arbeitsprozess, ein ständiges Umgießen des Banalen und Absurden in verschiedenste Formen. Ende der 1950er beweist der mit Dieter Roth und Daniel Spoerri eng befreundete Künstler mit Nadel und Faden, dass man Knöpfe an Hühnereier nähen kann, entwickelt Zeichnungen aus den Schattenwürfen des „Knopfeis“ oder porträtiert diese sinnfreien Objekte in verschiedenen Umgebungen.

Aus Thomkins’ Experimentierwerkstatt stammen auch die „Lackskins“. Wenn Lack auf Wasser schwimmt, ergibt sich eine Haut, auf der sich Zufallsbilder abzeichnen. Thomkins schuf monochrome und farbige, kleine und große und gegen Ende seines Lebens sogar riesige Lackskins. Thomkins schuf sich mit künstlerischen Mitteln eine fantastische Gegenwirklichkeit. In der Krise brauchen wir solche Fantasieräume mehr denn je.

Jens Hinrichsen

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