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Kultur: Santiago Gamboa: "Verlieren ist eine Frage der Methode" - Der Kolumbianer betätigt sich als Gabriel Garcia Márquez des Großstadtdschungels

"Anders als in den Büchern gehen die Geschichten im Leben immer weiter." Dieser Satz, der sich im Epilog von Santiago Gamboas Roman "Verlieren ist eine Frage der Methode" findet, deutet an, dass die Ungeheuerlichkeiten, die der Autor vor dem Leser ausgebreitet hat, zu keinem guten Ende kommen werden.

"Anders als in den Büchern gehen die Geschichten im Leben immer weiter." Dieser Satz, der sich im Epilog von Santiago Gamboas Roman "Verlieren ist eine Frage der Methode" findet, deutet an, dass die Ungeheuerlichkeiten, die der Autor vor dem Leser ausgebreitet hat, zu keinem guten Ende kommen werden.

Das Buch, von "Le Monde" als "exzellenter Krimi" bezeichnet, ist mehr als eine gute Story, die in die Welt des Verbrechens hineinleuchtet. Der Journalist Gamboa, der seit geraumer Zeit für die kolumbianische Zeitung "El Tiempo" in Rom tätig ist, hat eine Art Enthüllungsroman geschrieben: eine ebenso raffiniert verwobene wie kunstvoll durchgestaltete Erzählung, bei der man sich die ganze Lektüre hindurch nicht sicher ist, ob sie eine Übertreibung der Wirklichkeit oder eine fiktive Umsetzung tatsächlicher Begebenheiten ist.

Wer behält den Überblick?

Der Schauplatz des Geschehens ist Kolumbiens Hauptstadt Bogotá, der Ort, in dem sich die Zentralredaktion von Gamboas Zeitung befindet und in dem er selber 1965 geboren wurde. Als fraglos emsigsten Protagonisten des Buches könnte man den Journalisten Victor Silanpa bezeichnen. Doch gewissermaßen gehört dieser detektivische Wahrheitssucher mit beträchtlichen moralischen Stockflecken genauso zu der mobilen Verfügungsmasse des epischen Gesamtpersonals wie die anderen Figuren der monströsen Handlung, die so schwer zu durchschauen ist, dass einem der Gedanke kommt, es gibt hier nur zwei - allerdings wahrhaft übermenschliche - Helden: das Verbrechen und die Korruption.

In keinem anderen Land Lateinamerikas hat das Wort "violencia", "Gewalt", "Gewalttätigkeit", eine derartige Bedeutung erlangt wie in Kolumbien. Die Violencia gab sogar dem Bürgerkrieg zwischen 1948 und 1958 seinen Namen, und da sie keinen Ausgleich zwischen den Konservativen und den (ebenfalls reaktionär eingestellten) Liberalen schaffen konnte, blieben die sozialen und politischen Spannungen unbehoben. Das gesellschaftliche Gefüge verschob sich nur stärker in Richtung ökonomischer Modernisierung, und bald lebte nicht mehr die Hälfte der Bevölkerung auf dem Land - die Menschen zogen in die Slums der großen Städte, und das Elend bekam ein neues, ein urbanes Gesicht.

Wohnungsnot und Bauspekulation, auch bei uns keine unbekannten Vokabeln, geben nicht nur Stichworte für investigativen Journalismus; sie sind auch der Rohstoff, aus dem Gamboa seinen Roman synthetisiert - so gekonnt, dass man nicht abgeneigt ist, Manuel Vázquez Montalbán zuzustimmen, wenn er schwärmerisch sagte: "Neben Garcia Márquez ist Gamboa der bedeutendste kolumbianische Autor."

Die Wirklichkeit kennt keine Wunder

Alle lateinamerikanischen Erzähler haben es schwer, sich gegen den Weltruhm des Verfassers von "Hundert Jahre Einsamkeit" durchzusetzen. Besonders die Schriftsteller seines Heimatlandes stehen im Schatten des berühmten Kolumbianers, der selber darunter leidet, dass sein großer Wurf von 1967 sogar seinen eigenen Büchern Aufmerksamkeit und Glanz nimmt - auch denen, die er für bedeutender als seinen mythologie-durchwobenen Bestseller um die Geschichte des imaginären Orts Macondo hält.

Der entscheidende Unterschied, der zwischen dem Werk von Gabriel Garcia Márquez und - beispielsweise - dem von Santiago Gamboa besteht, ist die Verlagerung des geografischen wie des soziokulturellen Standorts. Garcia Márquez schilderte das Kolumbien der tropischen Niederungen: eine fast archaische Welt, die, ungeachtet aller Armut und gesellschaftlichen Fäulnis, noch abenteuerlich und, auf bizarre Weise, "wunderbar wirklich" war.

Gamboa hingegen ist der Großstadt verhaftet - eben der rund 5 Millionen Einwohner zählenden Kapitale seines Landes, die, klimatisch wenig begünstigt, mehr als 2600 Meter überm Meeresspiegel liegt und mit ihrem "unbarmherzigen Nieselregen" und ihrer kastilisch anmutenden Düsternis für Garcia Márquez - wie schon für den Freiheitskämpfer Simón Bolivar - ein Höchstmaß an Unwohnlichkeit verkörpert.

Gamboa lässt in seinem Roman ebenfalls keinerlei Zuneigung zu Bogotá erkennen, ja die Stadt, obwohl sie kartografisch genau in Erscheinung tritt, ist nur ein (halb)abstraktes Aktionsfeld für die perfiden Machenschaften, die auf erstaunlich leidenschaftslose Weise angeordnet und durchgeführt werden.

Hatte man von dem Garcia Márquez verwandten Héctor Rojas Herazo noch gesagt, er sei ein Erzähler, der die Dinge förmlich mit den Händen berührt, so muss man über Gamboa befinden: Er ist ein Autor, der die unglaublichsten Missstände mit emotionsloser Intellektualität analysiert.

An die Stelle des "magischen Realismus" ist eine andere Erzähltechnik getreten: eine kühle Distanziertheit, die jedoch über eine solche instrumentelle Sehschärfte verfügt, dass ihr nichts Menschliches verborgen bleibt. Und da das Ensemble ein einziges Panoptikum raffgieriger Politiker, durchtriebener Geschäftsleute, erbarmungsloser Mafiosi, nuttiger Frauen und druchgeknallter Journalisten ist, entsteht der Eindruck, dass es kaum solide Zeitgenossen gibt.

Mit äußerstem Geschick werden falsche Fährten gelegt, Tatsachen verdreht und Vorgänge so undurchschaubar gemacht, wie sie im wirklichen Leben gemeinhin sind. Verbrechen und Wirtschaftsinteressen bilden ein undurchdringliches Gestrüpp, und Agens des Ganzen, das vor den Kulissen den Pressemenschen Silanpa und den Polizeihauptmann Moya in Gang setzt, und hinter den Kulissen die (scheinbar) hochanständigen Träger der Macht rotieren lässt, ist ein Gepfählter, der unverhofft am Ufer eines Sees auftaucht, an dem eine Siedlung namens "Leben in Harmonie" entstehen soll.

Ab ins Gefängnis

Eigentlich geht es um Baugrund, um reines Business. Doch der Gepfählte bringt alle und alles durcheinander, selbst der ermittelnde Beamte Moya, den im Grunde nur ein Problem beschäftigt, sein Übergewicht, gerät durch den unerwarteten Verlauf der Dinge derart aus dem Konzept, dass er schließlich dem sich abzeichnenden Ermittlungsresultat entgegentreten muss und seinem Quasi-Komplizen Silanpa, zynisch bedeutet: "... wir werden hier sorgfältig sämtliches Material aufarbeiten, und wenn es notwendig sein wird, unseren Herrn Jesus Christus festzunehmen und ins Gefängnis zu stecken, dann werden wir das auch tun, verstanden? Aber überlassen Sie das bitteschön uns."

Gamboa macht sich den Spaß, den Roman gewissermaßen zweimal zu erzählen: einmal in seiner raffinierten und diffizil verzahnten Aufbereitungsart; und ein zweites Mal - eingeschoben in den narrativen Kontext - aus der Feder des Polizeihauptmanns Moya, der alles Substantielle weglässt und nur von sich selbst berichtet: in einer köstlich verschrobenen Amtssprache, in der er sich ausführlich über seine Fresssucht auslässt, sich einer Selbsterfahrungsgruppe mitteilt, seiner bescheidenen Bildung wegen lobt, sich als guter Christ, gewissenhafter Ordnungshüter und selbstloser Patriot präsentiert, um den Vogel abzuschießen, als er von seiner Kündigung bei der Polizei berichtet und sich damit brüstet, nunmehr "Leiter der Sicherheitsabteilung" jenes Bauunternehmers zu sein, dessen kriminelle Praktiken er aufs Arglistigste undurchsichtig gemacht hat.

Hans-Jürgen Heise

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