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Kultur: Saure Milch und wilde Mädchen - Am Schauspiel Bonn schreiben Autoren den Akteuren neue Stücke auf den Leib

Es gibt Dramatiker, die machen es sich leicht. Die Menschen leben beziehungslos, so schließen sie messerscharf, da schreibe ich ein Stück ohne Zusammenhang.

Es gibt Dramatiker, die machen es sich leicht. Die Menschen leben beziehungslos, so schließen sie messerscharf, da schreibe ich ein Stück ohne Zusammenhang. Ulrich Hubs "Die Rechnung des Milchmädchens" aber geht keineswegs auf. Nullen kann man nicht addieren. Die Kalkulation geht so: Vater, Mutter, zwei Töchter, ein Schwiegersohn. Die Heirat der zweiten Tochter steht an - und im Kaufhaus der Brauttisch mit den Geschenken. Man redet Blech mit mäßig scharfen Rändern. Alle tun wichtig, aber nichts zur Sache, weil es keine Sache gibt. In jeder Familie herrscht Rollentrennung, doch Hubs Figuren unterscheiden sich lediglich durch ihre Floskeln, die sie beständig wiederholen. Nur der Verkäufer schweigt und singt. Nach dem Kaufhaus folgt der Friedhof. Danach der Flughafen von Miami. Es könnte jedes Mal auch woanders sein. Selbst Eleonore, das Familienaschenputtel, hat kein richtiges Problem.

Zwar ist sie tablettensüchtig und der Mann, den sie endlich gefunden hat, wird plötzlich schwul und lässt die Hochzeit platzen. Zwar will sie später den Mörder der dritten Schwester heiraten, über die zu reden so etwas wie die Schmerzensmitte der Familie sein soll. Zwar stirbt Mama, frisst ein Geldautomat zuletzt alle Kreditkarten, ist die Familie ruiniert. Doch nichts hat Folgen, nichts Zusammenhang. Regisseur Frank Hoffmann bringt etwas Dramatik hinein, indem er Bühnenbildner Erich Fischer vier Aufzüge auf die Bühne des Malersaals stellen lässt, deren Türen immerzu mit pompösem Klang auf und zu gehen. Es ist deutlich, Hub träumt von Tschechow. Aber ihm gelingt nur Kindergeburtstag.

Es gibt Dramatiker, die machen es sich schwer. Die boxen ihre Stücke nicht zu Hause mit sich selber aus, sondern im Ring mit den Schauspielern. Die Theater glauben, dass dies die Lösung des Problems der schlechten Dramen sei. Das Schauspiel Bonn, das Hubs "Milmädchenrechnung" uraufgeführt hat, legt gar ein Programm dieser Art Stückerkämpfung auf: "Leibschreiben". Vor einem Jahr schrieben Theresia Walser, Moritz Rinke und John von Düffel den Darstellern ein Stück auf den Leib. Dieses Mal sind es Roland Schimmelpfennig, Katharina Gericke und wieder Düffel, weil der Dramaturg in Bonn ist. Schimmelpfennig, der gerade an der Berliner Schaubühne mit "Vor langer Zeit im Mai" einen Beziehungshauch schweben ließ (Tsp v. 15.3.2000), lässt mit seinem Dramolett "Push Up" einen Bürosturm wehen. Angelika ist so etwas wie Big Boss, Sabine ihre erfolgreichste Abteilungsleiterin. Sabine ist jung, dynamisch, ehrgeizig. Angelika auch, nur älter. Beider Phobien hinter der eiskalten Businessfassade - die Unfähigkeit, sich zu kleiden, die sexuelle Abstinenz - ähneln sich bis in die Wortwahl. In dem Gespräch, um das Sabine gebeten hat, umtänzeln sich beide mit verbalen Prankenhieben, um der anderen wahre Absicht heraus zu finden. Angelika behindert Sabines Aufstieg, weil eine archaische Frauenlogik ihr sagt, dass Sabine mit ihrem Mann, Kramer, ein Verhältnis hat. Denn Sabine ist Kramers Protegée. Sabine gesteht die Liaison, Angelika feuert sie. Mit dem Stolz des Opfers zieht Sabine von dannen - und bekennt im Abgang triumphierend, dass mit Kramer nie was war: "Aber es war schön, dass sie es mir zutraute."

Ein Stück, das unbedingt geschrieben werden musste (und dringend auszubauen wäre); aus einer Welt, von der wir viel zu wenig wissen. Wunderschön thronen die beiden Darstellerinnen (Angelika Fornell, Sabine Weithöner) auf ihren Bürostühlen wie auf Streitwagen, bieten die sägenden Armbewegungen, die knetenden Hände überkontrollierter Karrierefrauen. Leider vertraut die Regie Jessica Steinkes den Figuren zu wenig und vergröbert sie oft zur Karikatur. In der Inszenierung des zweiten Stücks ist Steinke sensibler: Katharina Gerickes "Typhusmond". Die Autorin, der mit "Maienschlager" ein beeindruckendes Debütstück über die Liebe zwischen einem Hitler- und einem Judenjungen gelang, wirft sich hier erneut in einen historischen Monumentalraum, die bolschewistische Revolution. Doch wohl nur, um sich lachend darin herum zu wälzen.

Ein Gesundheitskommissar, ein Zahnarzt, ein Komsomolsekretär, ein Mönch; 1919 in einem Kloster an der Wolga. Der Typhus grassiert, einer der Anwesenden ist ein Verräter. Auf jambischer Sprache reiten die blutig-finsteren Bilder eines Revolutions-Expressionismus. Weiße Saboteure, saure Gürkchen und Belugakörner wohnen eng bei einander. Fiebernd, hustend, sabbernd liegen, kriechen, torkeln die Weltverbesserer auf der Bonner Werkstattbühne auf einander herum. Aus gefolterten Körpern quillt Blut, aus dicken Säcken bedrucktes Papier. Heißeste Genossennähe und stählerne Unerbittlichkeit, ein heillos lachhaftes Gemenge aus Angst vor Zahnweh, Konterrevolutions-Paranoia und Großzeitpathos - ist es Zufall, dass die hymnische Militärmantelprosa Gerickes (die 1966 in der DDR geboren wurde) wie eine Persiflage auf Heiner Müllers Untergangsheroik à la "Wolokolamsker Chaussee" klingt?

Abschluss und Abstieg des Abends bringt das Projekt "Angst", für den der Dramatiker (und Autor beachtlicher Romane wie "Vom Wasser"), John von Düffel, Horror- und Gruselgeschichten seiner Ensemblekollegen gesammelt hat. Doch was sich als Prosastückchen schaurig-vergnüglich liest, findet auf der Bühne (Regie: Christina Friedrich) keine Gestalt. Auf leuchtendem Plexiglasrund bieten fünf Darsteller Rollentastversuche, Schauspieler-Aufwärmübungen, minutenlangen Klassenfahrtenjux im Finstern. Nur eines nicht: Gruseln, Angst.

Mit "Leibschreiben 2" geht der Bonner Versuch zur Verbesserung deutscher Dramen zu Ende. Er war löblich. Er sollte nachgeahmt werden. Wenn er auch keinen Shakespeare, Molière, Brecht hervorgebracht hat, die auch alle nicht am Schreibtisch dichteten.

Ulrich Deuter

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