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Morteza Khosravi, Untitled, 200 x 130, 2017, Öl auf Leinwand.

© Simine Paris

Schamanen in Paris: Die Kunstmesse Menart

Die Pariser Kunstmesse Menart zeigt Riskantes und Ungewöhnliches aus Nordafrika und dem Nahen Osten.

Von Werner Bloch

Das Universum ist voller Irrtümer. Wir leben in einer Welt der Tricks und Täuschungen, und manchmal mischt die Kunst munter mit, wenn es darum geht, uns aufs Glatteis zu führen. Zum Beispiel dieser schimmernde, lebensgroße, ganz in Grün- und Grautönen gehaltene Akt einer jungen Frau, die in Frontalansicht fast transparent erscheint.

Gerade ist sie offenbar gerade dabei, sich den letzten Zipfel eines hauchdünnen Ganzkörper-Gazeschleiers abzustreifen, der sie wie ein Mantel umhüllte, doch auch jetzt ist sie nicht völlig nackt, weil sich eine Art Aura um sie gelegt hat. Die junge Frau scheint mit ausgebreiteten Armen zu tanzen oder zu schweben. Ein Moment stiller Ekstase – und wohl auch ein existentieller Akt weiblicher Selbstbefreiung.  

Rätselhaft, elektrisierend

Es ist ein rätselhaftes, elektrisierendes Bild, vor dem viele Besuchern der Kunstmesse MENART stehenbleiben. Der Stil erinnert an den Orientalismus, jene Epoche, in der die europäische Kunst vom Nahen Osten geradezu hypnotisiert wurde uns alles Fremde in einem einzigartigen Fantasma „exotisierte“. Doch dieses Gemälde stammt keineswegs aus einem Pariser Atelier um 1870. Es ist erst ein paar Monate alt, wurde Anfang 2023 in der iranischen Provinz von einem Shooting-Star der dortigen Kunstszene geschaffen, dem 36-jährigen Maler Morteza Khosravi. „Mein Bild steht in enger Beziehung zur aktuellen Oppositionsbewegung Woman Life Freedom“, erklärt der Künstler im Interview auf der MENART am Stand der Galerie Simine Paris. Aktmalerei sei in seinem Land keine Seltenheit, man dürfe nur nicht darüber sprechen, alles geschehe unter dem Radar.  

Zeithistorisches Dokument

Dass Khosravi für diese Arbeit sein Leben riskiert, erzählt das Bild nicht. Es wurde auf geheimen Wegen nach Norwegen geschmuggelt und kam von dort nach Brüssel und Paris, Kostenpunkt knapp unter 10.000 Euro. Nicht viel für ein Meisterwerk und zeithistorisches Dokument, das eine Menge über die Lage in der Welt aussagt.

Solch seltene Begegnungen waren letzte Woche auf der Pariser MENART zu erleben, der weltweit einzigen Kunstmesse, die sich ausschließlich der MENA-Region (Middle East/ North Africa) widmet. 31 Galerien plus sechs Institutionen und Stiftungen im fantastischen Palais d’Iéna, einem modernistischen, aber stellenweise fast surreal anmutenden Bau im vornehmen 16. Arrondissement, nicht weit vom Eiffelturm. Quantitativ ist die Messe eher überschaubar.

Neue Blicke jenseits des westlichen Blicks

Doch wer Neues erschnuppern und Perspektiven jenseits des traditionellen westlichen Blicks entdecken will, der liegt hier goldrichtig. „Die arabische Gegenwartskunst hat in den letzten zehn Jahren exponentiell an Bedeutung gewonnen“, sagt Laure d’Hauteville, die Gründerin, Direktorin und Managerin von MENART.

Inzwischen hat praktisch jedes große Auktionshaus auf der Welt eine eigene Abteilung für die MENA-Region. D’Hauteville, die perfekt arabisch spricht und häufig im Libanon gelebt hat, gilt als eine der wichtigsten Kunstvermittlerinnen zwischen Europa und dem Nahen Osten. Die bestens vernetzte Kulturdiplomatin schuf 1998 die Beirut Art Fair, ab 2007 auch die Art Paris Abu Dhabi, die in die heute Abu Dhabi Art mündete. Seit der dramatischen Implosion der libanesischen Wirtschaft und der fatalen Explosion im Hafen von Beirut, bei der ein Großteil der Innenstadt zerstört wurde und Tausende ums Leben kamen, dreht Laure d’Hauteville den Spieß um: sie holt nun selbst die Kunst des Südens nach Europa. Es ist bereits die vierte Edition von MENART, nachdem im Februar bereits ein überaus erfolgreicher Ableger in Brüssel stattfand.  

Vielschichtige Realität

Wie vielschichtig die Realität derzeit etwa in Nordafrika ist, erkennt man am Stand der Musk and Amber Gallery aus Tunis. Dort sieht man prachtvolle Fotografien dunkelhäutiger Frauen, die Gesichter über und über mit feinster arabischer Schmiedekunst behängt – teilweise bis über die Augen. Die Afrikanerinnen auf den Fotos der Serie „Legacy“ von Héla Ammar tragen exquisite Gewänder, aber auch gelbe oder blaue Plastik-Putzhandschuhe. Es sind „Hausmädchen“ in tunesischen Familien, benachteiligte, oft ausgenutzte Menschen ohne Perspektive.

Innerafrikanische Konflikte

„Man darf nicht vergessen, dass auch in Nordafrika traditionell ein starker Rassismus gegenüber Dunkelhäutigen herrscht“, erklärt die Galeristin. Die rassistische Grundstimmung sei durch die Flüchtlingskrise eskaliert, Hass und Aggression richteten sich jetzt umso stärker gegen jene Menschen aus den Ländern Afrikas, die an den Stränden Tunesiens darauf warten, in ein Boot nach Europa zu steigen.     

Vieles auf der MENART ist für kleine Münze zu haben, ab 200 Euro aufwärts. Anders als bei großen Kunstmessen à la Art Basel geht es für Laure d’Hauteville nicht ums große Blingbling. Im Gegenteil, eine Messe wie MENART erfordert Mut, das Risiko von Verlusten ist hoch. Anders als in den politischen Sonntagsreden findet man hier tatsächlich die integrative Kraft von Kunst, Austausch und Dialog – hehre Ziele, aber in Paris sind sie in der Praxis spürbar.

Moderne Totempfähle

Im wilden Gewusel des Eröffnungsabends, an dem Tout Paris wegen der Tage des nationalen Kulturerbes unterwegs zu sein scheint, treffen wir Mouna Rebeiz vor hohen, bunten Stelen, die aus puzzleartigen Teilen zusammengesetzt sind und auf den ersten Blick an leuchtende Popart erinnern. Weit gefehlt. „Das sind Totempfähle“, erklärt die im Libanon aufgewachsene und lange in Quebec lebende Künstlerin, „diese enthalten bei den Indigenen die DNA der kulturellen Identität.“ Bis zu 70.000 Euro sind für einen solchen modernen Totempfahl zu berappen.

In einer anderen Arbeit mit dem Titel „Der Wahrsager“ erklärt die schillernd auftretende Mouna Rebeiz den Künstler zum Deuter der Zukunft. Dazu hat sie die Tarot-Karten nach verschiedenen Epochen der Kunstgeschichte neu gemalt. Beim Orakel werden die Karten mit Hilfe der KI gezogen. So entsteht eine Allianz aus Magie, Esoterik, Kunstgeschichte und AI. Der Künstler sei eine Art neuer Schamane, es gehe um das „das höchst unwahrscheinliche Aufeinandertreffen von Mystizimsus und Künstlicher Intelligenz.“ Mit dieser Arbeit hat sie es immerhin auf die letzte Venedig-Biennale geschafft.

Urgestein der Kunstszene

Zwei deutsche Galerien sind auf der MENART vertreten: die Berlinerin Katharina Raab, die sich statt der Berliner Art Week für die MENART entschieden hatte und die Galerie Tanit (München/Beirut). Letztere ist ein Urgestein der libanesischen Kunstszene, ihre Gründerin Naila Kettaneh-Kunigk ist parallel seit mehr als fünfzig Jahren in Deutschland aktiv.

Tanit hat viele der besten libanesischen Künstlerinnen unter Vertrag, darunter auch Mouna Rebeiz. Nirgendwo erscheint die Kunst so wichtig für das Überleben eines Staates so wichtig wie im Libanon. Der mittlerweile dysfunktionale Staat zerfällt in achtzehn religiöse und ethnische Gruppen, es gibt nicht einmal ein gemeinsames Geschichtsbuch in den Schulen. Künstler wie Akram Zaatari oder Walid Raad experimentieren in ihren Arbeiten mit der staatlichen Identität. Der Libanon wird heute am besten über die Kunst definiert.

Klar, dass Kunst und Kunstmarkt in dieser Region viel mit Politik zu tun haben. Es ist kein Zufall, dass das französische Kulturministerium inzwischen die MENART unterstützt. Überhaupt scheint Frankreich näher an der Region dran zu sein als Deutschland. Der Künstler Morteza Khosravi hat jedenfalls beschlossen, sich den Gefahren in seiner Heimat nicht länger auszusetzen. Er zieht mit seiner Ehefrau nach Paris. Die französische Botschaft in Teheran hat ihm ein „talent visa“ ausgestellt.

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