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Kultur: Schaut auf diese Stadt!

Immanuel Kant wurde hier geboren. Zwischen 1946 und 1991 war das ehemalige Königsberg eine sowjetische Stadt. Mit der Erweiterung der EU stehen in der russischen Enklave Kaliningrad nun tiefgreifende Veränderungen an.

Vielleicht liegt es an Marion Gräfin Dönhoff, an Christian Graf von Krockow und dem späten Günter Grass, dass selbst Bayern und Rheinländer zu gekränkten Wahlpreußen werden, sobald sie nach Kaliningrad, ins ehemalige Königsberg kommen. Vielleicht liegt es auch am neuen Preußenkitsch und -kult, dass Menschen, die hier keine Wurzeln haben, in Kaliningrad zornig den Zeigefinger Richtung Moskau erheben. Doch möglicherweise ist einfach nur der Himmel schuld, dieses dunkle Grau, vor dem den ganzen Tag kleine weiße Wolken zum Meer rasen, nach Rauschen und Cranz, an jene Ostseebäder also, von denen unsere Großeltern noch schwärmen, die aber schon seit fast 60 Jahren russische Namen tragen.

Oder der Flughafen. Für den Wirtschaftswissenschaftler aus Düsseldorf, der heute Mittag zusammen mit zwei Kollegen aus einer winzigen Propellermaschine steigt, ist allein der internationale „Aeroport“ von Kaliningrad ein Affront. Ein Rollfeld irgendwo im Niemandsland, nicht größer als zwei Tennisplätze, eine einstöckige weiß getünchte Halle, darin zwei Passabfertigungshäuschen, zwei riesige Eternitkübel, die als Aschenbecher dienen, und ein vergittertes Duty-Free-Geschäft.

Der Wirtschaftswissenschaftler will zuerst gar nicht glauben, dass „unsere Wehrmacht“ diesen Kasten einmal gebaut haben soll. „Bist du sicher?“, fragt er einen seiner Kollegen und schlägt den Kragen seiner gefütterten Lederjacke hoch. „In den 20er Jahren“, antwortet der knapp. „Aus strategischen Gründen.“ Die Grenzbeschlüsse des Versailler Vertrages hatten Ostpreußen nach dem Ersten Weltkrieg vom deutschen Kernland abgeschnitten. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde dieses Gebiet dann halb den Polen, halb der Sowjetunion zugeschlagen. Die zur russischen Sowjetrepublik gehörende „Kaliningradskaja Oblast“ blieb bis 1991 für Ausländer gesperrt.

Seither sind viele angereist, um ihre alte Heimat zu besichtigen. Zehntausende Bundesbürger sollen in den letzten zwölf Jahren dort gewesen sein. In Kaliningrad heißen sie „Heimwehtouristen“. Man erkenne sie an ihren bunten Anoraks und den dicken Fotoapparaten, sagen die Leute. Im Winter kommt wenig Westbesuch, meistens sind es Geschäftsleute. Sie bleiben nicht lange. Auch die drei Düsseldorfer fliegen übermorgen schon wieder zurück. Die Universität hat sie eingeladen, um über eine Kooperation nachzudenken. Durch die Osterweiterung der Europäischen Union wird die russische Enklave Kaliningrad nächsten Mai endgültig zur Insel, zum russischen Billiglohnsektor mitten im künftigen Euroland.

Phantomschmerzen

Ob die Region damit wieder näher an Europa rückt oder ob sie sich weiter von Europa entfernt, ist im Moment noch schwer zu sagen. In jedem Fall stehen dem Kaliningrader Gebiet in den nächsten Jahren die größten Umwälzungen seit 1945 bevor. Und wirtschaftlich könne das „für uns“ durchaus interessant sein, fanden die Düsseldorfer. Doch jetzt, da sie den Flughafen kennen, sind sie sich nicht mehr so sicher. Außerdem regnet es. Kübelweise. Auf dem betonierten Parkplatz vor dem Flughafen staut sich ein beachtlicher See, und drei Wirtschaftswissenschaftler aus Düsseldorf haben nur noch eine Sorge: Ob das Hotel wohl eine Heizung hat, auf der sie ihre Sachen trocknen können? Bei den Russen wisse man ja nie, sagt der mit der gefütterten Lederjacke, und schon sind sie wieder beim Thema: Stalin ist jetzt der „Barbar“, Churchill ein „Kriegsverbrecher“ und Hitler einfach „der Führer“. Wahrscheinlich meinen sie das nicht so, wie es klingt. Kaliningrad macht sie einfach schon nervös, bevor sie das Zentrum gesehen haben. Sie wissen, was sie dort erwartet.

Nichts, aber auch gar nichts erinnere dort mehr an die Stadt ihrer Kindheit, klagte Marion Gräfin Dönhoff bereits 1991 in einem langen bösen Artikel für „Die Zeit“. Kaliningrad wurde nach dem Zweiten Weltkrieg aus Betonplatten zusammengesetzt, und der erste Eindruck ist wirklich entsetzlich: Anonyme Hochhausmasse bis zum Horizont, ineinander geschachtelte Acht- bis Zehnstöcker, durch riesige Aufmarschstraßen in ein eigenartiges Schachbrettmuster gezwängt.

Während in St. Petersburg der Newskij-Prospekt mit seinen klassizistischen Palästen und schicken Geschäften den Fremden becirct, in Moskau die Architektur des neuen Geldes blendet, führt der Blick in Kaliningrad gleich in die Eingeweide. An jeder Ecke versprechen handgemalte Schilder einen billigen Rausch. „Samogonka“, Selbstgebrauter, 7 Rubel, 20 Cent, der Liter. Davor grölen Leute, die schon länger trinken als eine Nacht. Oft können sie sich nicht einmal mehr auf den Beinen halten.

Doppelte Geschichte

30 Prozent aller russischen Männer haben der Statistik zufolge ein Alkoholproblem, doch in Kaliningrad verstecken sie sich nicht in den Außenbezirken. Selbst auf den zentralen Straßen, dem Lenin- und der Karl-Marx-Prospekt, sieht man sie überall. Man sieht auch zerschlagene Fensterscheiben, notdürftig mit Teer zusammengeflickte Häuserwände, alte Frauen, die in Filzpantoffeln durch die Pfützen waten, Prostitution. Kaliningrad hat keine Fassaden mehr, hinter denen das Elend sich verkriechen könnte. Es ist eine brutal ehrliche Stadt, aber diese Ehrlichkeit ist am Anfang nur schwer zu ertragen. „Sie schauen eben doch mit deutschen Augen“, glaubt Peter Wunsch, der Direktor des vom Bundesinnenministerium finanzierten deutsch-russischen Hauses. „Im sibirischen Workuta würden Sie denken: Ist doch gar nicht so schlecht.“ Die Wände seines schlichten Büros hat er mit emaillierten Straßenschildern und Trambahntafeln aus deutscher Vorzeit voll gehängt. „Ratshof, Hansaring, Kaiser-Wilhelm-Platz, Schlachthof“ steht darauf. Sie sind schön anzusehen, aber sie führen nirgends mehr hin.

Kaliningrad ist seit 1946 eine russische Stadt. Zehn Prozent der Bevölkerung leben heute gut, zwei Prozent leben sehr gut, der Rest ist bitterarm, mit den bekannten Folgen: Aids, Drogensucht und Tuberkulose. Wenn man so will, ist Kaliningrad sogar russischer Durchschnitt, aber es ist nicht Sibirien. Zwischen Budendörfern und Neubauvierteln, auf den viel zu breiten, mittlerweile löchrigen Paradestraßen sucht man instinktiv nach etwas, das es nicht mehr gibt. Hier und da findet man einen Kanaldeckel mit lateinischen Buchstaben, taucht auf einem zerbeulten Briefkasten ein deutscher Name auf. An der kürzlich restaurierten Backsteinfassade des „Hotel Moskau“ hängt noch eine Granittafel mit dem Berliner Bären. Auch der alte Tierpark ist noch da. Doch das Geburtshaus von Hannah Arendt in der früheren Tiergartenstraße 6, heute Zoologitscheskaja, fiel 1944 den britischen Bomben zum Opfer. Die alte Börse am Pregelufer hat als Kasino für Seeleute überlebt und vor ein paar Jahren einen swimming-pool-blauen Anstrich bekommen. Auf der grünen Insel mitten im Fluss, dem ehemaligen Kneiphof, wird mit Unterstützung der Hamburger Zeit-Stiftung der alte Dom wieder aufgebaut.

Bis Ende der 30er Jahre soll hier das soziale Zentrum Königsbergs gelegen haben, mit zahllosen Geschäften, Laubengängen, Logenhäusern und Grünanlagen, Musik und gut gelaunt flanierenden Bürgern. Hugo von Hofmannsthal, Käthe Kollwitz, Hannah Arendt – sie alle werden zu ihrer Zeit einmal hier gewesen sein. Auch Immanuel Kant soll auf dem Kneiphof jeden Abend um Punkt 17 Uhr seinen Spaziergang angetreten haben. Nach seinem Tod, am 12. Februar vor 300 Jahren, wurde er als letzter Königsberger Gelehrter, im Dom beigesetzt. Und wenn die Legende stimmt, ist es dem Philosophen zu verdanken, dass die Domruine nach dem Krieg nicht in die Luft gesprengt wurde. Angeblich hat die Rote Armee den Befehl erhalten, den Denker zu schonen. Als „großer Kaliningrader Philosoph“ (Leonid Breschnew) hat er hier fernab von den intellektuellen Zentren der westlichen Welt die Dekonstruktionsgewitter der französischen Postmoderne schadlos überstanden. Doch auch mit Kant und seinem neuen rot blitzenden Kupferdach kommt der mittelalterliche Dom gegen die neuzeitliche Gigantomanie nicht an. Das Dom Sowjetow, ein Betonmonstrum, das vor mehr als 30 Jahren am anderen Pregelufer auf vier Pfeilern in den Grund gerammt wurde, wirkt immer größer.

Bis in die 60er Jahre haben Kaliningrader Architekten, die mehr von Proportionen verstanden als ihre Parteiführer, darüber diskutiert, ob es nicht besser sei, an dieser Stelle das alte Königsberger Schloss wieder zu errichten, um dem zerfließenden Stadtraum ein bisschen Halt zu geben. Aber Moskau war dagegen. Die „Brutstätte des preußischen Militarismus“ – hier hatte sich Friedrich I. 1701 selbst zum „König in Preußen“ gekrönt – sollte einem Haus der Räte weichen. Ende der 60er Jahre wurde mit dem Bau begonnen, 1984, kurz vor Beginn der Perestrojka, wurde er eingestellt. Der Boden hatte nachgegeben. Seitdem weiß niemand, was man mit diesem monströsen Koloss machen soll. Lässt man ihn stehen, wird er immer wirken wie ein düsterer Zeuge einer Utopie, deren Verwirklichung so gründlich misslang. Reißt man ihn ab, kapituliert man vor dem selbst gesetzten Auftrag, auf der verbrannten Erde der Stadt, die Hitler in seinen letzten Monaten des Wahns noch zur „Festung“ erklärt hatte, eine neue Zivilisation zu errichten.

Kaliningrad/Königsberg liege im „Planquadrat des totalen Krieges“ hat der Historiker Karl Schlögel einmal geschrieben. Die monotone Stadt sei eine „Stadt nach dem Grauen“. Heute leidet sie, anders als Berlin, nicht unter einer geteilten Erinnerung, sondern an ihrer doppelten Geschichte. Die Royal Air Force zerstörte nicht nur, wie die ostpreußischen Landsmannschaften klagen, „Königsberg, die Perle an der Ostsee“, sondern vor allem den östlichen Vorposten der deutschen Aggression. Die Sowjets haben die letzten Deutschen anschließend nicht nur brutalst vertrieben, sie haben vorher auch die größten Kriegsopfer gebracht. Viele Neusiedler kamen 1946 aus Gegenden in der Ukraine und Weißrussland, wo die Wehrmacht keinen Stein auf dem anderen gelassen hatte. Im annektierten Königsberg fanden sie ein neues Zuhause. Damals nannten sie sich Pioniere, das junge Kaliningrad nennt sie heute etwas verächtlich die „Veteranen“.

Die Männer erkennt man daran, dass sie, auch Jahrzehnte, nachdem sie den Dienst quittiert haben, noch gerne die alten Uniformen tragen. Wenn man sie mit einem deutschen Akzent nach dem Weg fragt, antworten sie manchmal nicht. Auch der alte Herr, der mit Breschnew-Mütze und oliv-braun gemusterter Tarnjacke im Bus Richtung Südbahnhof sitzt, zieht nur unwirsch die dicken grauen Brauen zusammen. Seiner Frau ist das peinlich. „Das Mädchen kann doch nichts dafür.“ Auf ihrem Kopf sitzt eine flauschige Angora-Mütze, in ihrem Mund ist nur ein einziger Zahn nicht mit Gold übergossen. Sie nennt sich Lidija und spricht lieber als ihr Mann. Das Ehepaar, erzählt sie, habe sich in den 30er Jahren im sibirischen Omsk kennen gelernt. Er erlebte das Kriegsende im Mai 1945 in Magdeburg. 1947 zogen sie gemeinsam nach Kaliningrad. Ihr Mann hatte in der örtlichen Militärverwaltung einen „Posten“. Seit dieser Zeit leben sie im Norden der Stadt, in Amalienau, wo noch viele alte Bürgerhäuser erhalten geblieben sind.

Sie gehörten zur Elite, doch fast 50 Jahre wurden sie die Angst nicht los, dass die Deutschen zurückkommen würden, um das Haus zurückzufordern. Und als die Deutschen dann Anfang der 90er Jahre wirklich kamen, dachten sie zuerst, all ihre Albträume würden wahr. Der „deutsche Drang nach Osten“ wäre noch immer nicht gestillt. Aber die Deutschen wollten nur einen Fliedersetzling aus dem Vorgarten haben. So hat sich für Frau Lidija das Verhältnis zum ehemaligen Feind an einem Vormittag entspannt. Das offizielle Verhältnis der Stadt zu ihrer deutschen Vorgeschichte aber ist in Kaliningrad noch lange nicht geklärt. Es gleicht einer Beziehung von Leuten, die sich nie mochten, aber weil sie nun schon so lange im selben Haus leben, irgendwann dazu übergegangen sind, einander zu grüßen. Manchmal denken sie kurz darüber nach, sich anzufreunden, aber für ein nachbarschaftliches „Du“ im Treppenhaus sind die gegenseitigen Vorurteile noch zu stark.

Im sozialistischen Kaliningrad war es verboten, im staatlichen Fernsehen die Ziegeldächer und Backsteinfassaden der letzten deutschen Häuser zu zeigen. Die offizielle Bildsprache der Sowjetunion inszenierte die Stadt als Triumph über den deutschen Faschismus und alles, was vorher war. Nur Dissidenten stöberten in Kellern, Privatarchiven und in der Kanalisation nach Überresten aus der anderen Epoche. Alte Aschenbecher, Straßenschilder, Fotografien, Sammeltassen und Silberbesteck wurden in den 60er und 70er Jahren zu den Emblemen des „radical chic“ einer aufmüpfigen Jugend. Dafür kam man nicht ins Lager, sagt Anatolij Bachtin, nur zum Verhör beim KGB. Es waren selten produktive Gespräche.

Kurioses Jubiläum

„Ich sollte denen erklären, warum ich mich nicht für die Gegenwart interessiere“, erinnert er sich. „Dabei interessierte ich mich bloß auch für Geschichte.“ Die Aktenmappen in seinem kleinen, etwas muffigen Büro im Kaliningrader Stadtarchiv sind mit dem Wappen der deutschen Ordensritter verziert. Bachtin gilt heute als einer der profiliertesten Preußenforscher Russlands, seine Bücher werden auch hierzulande verlegt. In Kaliningrad kennt man den verstrubbelten Endvierziger inzwischen gut. In seinen Aktenmappen lagert ein Wissen, das viele gerne mit ihm teilen würden. Denn mit dem Ende der Sowjetunion bekam auch das Kollektiv-Ego Kaliningrads als „Faust an der Ostsee" einen ziemlichen Knacks.

Moskau füllt die Leere, die die alte Ideologie hinterlassen hat, heute mit seinem Reichtum, Petersburg mit Peter dem Großen, Omsk hat Gas, Irkutsk Strom, Norilsk Öl. An der Küste vor Kaliningrad liegen 90 Prozent aller Bernsteinvorräte weltweit. Trotzdem gräbt die Stadt, sehr zum Unwillen der Veteranen, seit über zehn Jahren nach einer Geschichte, die älter ist als ein knappes Menschenleben.

Kaliningrad sei eben doch nicht Russland, sagt die Jugend. Die Kaliningrader erkenne man vielmehr daran, dass sie sich in Paris zwar wie Russen, in Moskau aber wie Westeuropäer fühlen, sagt Katja, eine Mathematikstudentin mit kaukasischen Zügen. Sie hat gerade an der Garderobe des Sarja-Kinos am Prospekt Mira ihren Mantel abgegeben und schaut nun interessiert auf die alten deutschen Emaille-Tafeln, die hier unten die Wände schmücken. Ein mit Flugrost überzogenes Schild fordert „Lest die Königsberger Zeitung“. Katja kann das nicht entziffern, aber es gefällt ihr auch so. Die preußischen Überreste, die das Kino seit neuestem mit kindlichem Stolz zur Schau stellt, gehören für sie in eine Welt mit dem Tarantino-Film, den sie gleich sehen wird. Für das junge Kaliningrad klingt Preußen mittlerweile vor allem nach Europa, nach Westen und Wohlstand. Gleichzeitig bedeutet Europa hier auch immer die Gefährdung des Status quo.

Seit vergangenem Juli brauchen die Einwohner der russischen Enklave ein Visum, um durch Litauen ins russische Kernland zu reisen; einen visafreien Schnellzug hat der einstige kleine Bruder der großen Sowjetunion verhindert. Dass seit Anfang Dezember wieder ein durchgehender Zug zwischen Berlin und Kaliningrad verkehrt, ist der einzige Verhandlungserfolg, den die russische Seite in der Jahre währenden Transitdiskussion zu verzeichnen hat. Polen war dagegen, wegen der Schmuggler, hieß es offiziell. Doch die wahren Gründe werden andere gewesen sein. In Kaliningrad vergeht die Geschichte langsamer als anderswo, hier sind die alten Ängste noch lange nicht überwunden.

Jeder Versuch von offizieller russischer Seite, die prekäre Lage und die doppelte Vergangenheit der Stadt fruchtbar zu machen, sind bisher an der Angst vor der eigenen Courage gescheitert. Man hat Kaliningrad zur „Pilotregion“ erklärt, in der das Verhältnis zwischen Russland und Europa neu definiert werden solle, ja, man hat sogar laut darüber nachgedacht, die Gegend zum staatlich geförderten Ansiedlungsgebiet für Deutschrussen aus der ganzen ehemaligen Sowjetunion zu erklären. Doch aus der „angedachten“ Freihandelszone „Jantar“, Bernstein, wurde bloß eine „Sonderwirtschaftszone“. Deren Gesetzeslage ist bis heute so verworren, dass sich außer BMW bisher kein großer Investor nach Kaliningrad getraut hat. Und als nach der Umbenennung von Leningrad in St. Petersburg auch in Kaliningrad die Namensdiskussion entbrannte, beendete Jelzin die Debatte nachgerade panisch und per Dekret.

Kaliningrad durfte nicht wieder einen deutschen Namen bekommen, weil es anders als Leningrad einmal eine deutsche Stadt war. Diese deutsche Stadt würde 2005 750 Jahre alt, und in Russland wird nun schon wieder geraume Zeit darüber gestritten, ob Kaliningrad das Jubiläum begehen soll oder nicht. Moskau war zuerst sehr dagegen. Es gebe keine Gründe, den 750. Geburtstag einer „nicht existenten deutschen Stadt“ zu feiern, hieß es noch im Mai in einem Schreiben an den Gouverneur Wladimir Jegorow. Am 15. November haben sich beide Seiten auf einen Kompromiss geeinigt: „750 Jahre Kaliningrad“. Das ist historisch nicht korrekt und klingt ein bisschen lächerlich. Aber der Schriftsteller Alexander Popadin, einer der Initiatoren des Jubiläums, kann damit leben. Kontinuität, sagt er, sei das einzige, was der Stadt in Zukunft helfe. Brüche hat sie genug.

Stefanie Flamm

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