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Kultur: Schlag zu mit Schiller

Bildungsferne? Reclam-Hefte! „Verrücktes Blut“ im Ballhaus Naunynstraße

Natürlich ist Sarrazin auch hier präsent, wenngleich nicht leibhaftig oder namentlich. Aber dass der Kanonendonner seiner Volksverdummungsthesen im Ballhaus Naunynstraße so oder so nachhallt, dürfte einleuchten. Zum Auftakt der dritten Spielzeit des Kreuzberger Theaters, das sich unter Shermin Langhoffs künstlerischer Leitung den postmigrantischen Geschichten verschrieben hat und damit gegen voraufgeklärte Weltbilder zu Felde zieht, spricht André Schmitz ein paar Worte. Der Kulturstaatssekretär, als engagierter Verfechter interkultureller Projekte derzeit nicht unter Volksheldverdacht, sagt sinngemäß und sehr richtig, dass es ja keine Rolle spiele, ob man die dort tätigen Künstlerinnen und Künstler nun Migranten nenne oder einfach Berliner. „Hauptsache“, so Sarrazins Noch-Parteikollege, „sie vermehren unseren kulturellen Reichtum.

Es geht um Bildung. Und, ach ja, um Gene und Intelligenz. „Wer soll euch glauben, dass ihr keine Affen seid, wenn ihr noch nicht einmal das schöne deutsche Wort Vernunft aussprechen könnt?“, fragt die verzweifelte Lehrerin trefflich ins Rund ihrer Problemschüler. Um ihnen hernach, auch mit Gewalt, den geballten Schiller einzubimsen. „Verrücktes Blut“ heißt die Eröffnungs-Inszenierung von Nurkan Erpulat, selbstredend noch vor dem Bohei um die demographische Apokalypse entstanden, in Kooperation mit der Ruhrtriennale, wo sie auch Premiere gefeiert hat.

Die Fassung, die Erpulat und der ehemalige Schaubühnen-Dramaturg Jens Hillje erstellt haben, basiert recht frei auf dem französischen Film „La journée de la jupe – Heute trage ich Rock!“ von Jean-Paul Lilienfeld. Ein krudes Werk, es lief mal auf der Berlinale und verschwand dann ins DVD-Regal. Isabelle Adjani spielt darin die Lehrerin einer Migrantenklasse, die es satt hat, ob ihrer fraulichen Kleidung von den ehrenmordbereiten Radau-Zöglingen als Schlampe beschimpft zu werden und der mitten im Rütli-mäßigen Unterrichtschaos die Waffe eines Schülers zufällt – woraufhin sie den Spieß umdreht.

So weit folgt Erpulat der Vorlage noch, nur lässt er im Gegensatz zu Lilienfeld das Klischee des präpotenten Macho-Muslims nicht lange stehen. Seine jungen Spieler nehmen gleich zu Beginn in formvollendeter Neuköllner Getto-Pose Aufstellung und treiben das Boulevardszenario eines Hauptschulhofs ins Extrem, während über ihnen, als Damoklesschwert der schönen Künste, ein Klavier von der Decke baumelt (Bühne: Magda Willi). Mitten ins Rotz-Konzert der Flegel platzt die Lehrerin mit einem Stapel Reclamhefte und steht auf verlorenem Posten. Mit welcher hoch nervösen, auch rasend komischen Energie Sesede Terziyan diese Pädagogin auflädt, die sich bald mit gezückter Knarre zur Bildungsfurie wandelt, ist phänomenal. Im Handstreich setzt sie Schillers „Ästhetische Erziehung des Menschen“ auf den Lehrplan ihrer Dramaklasse (der Mensch ist nur da ganz Mensch, wo er spielt!) und lässt die Rabauken „Die Räuber“ geben. Was Regisseur Erpulat so vielbödig inszeniert, dass es eine helle Freude ist.

Munter wird mit Parallelen zwischen Karl Moors Gesetzlosenbande und dem Zerrbild der straffälligen islamischen angry young men gespielt, en passant der fromme Glaube verwitzelt, man müsse den vermeintlich Zurückgebliebenen die deutsche Bildungskanone auf die Brust setzen. Und mit lässigem Sarkasmus nimmt Erpulat das Theater selbst ins Visier, das Schauspielern nichtdeutscher Herkunft noch immer vorwiegend die „Kanaken-Rollen“ zuschiebt.

Dass in der Debatte um die Integrationsunwilligen mal wieder so getan wird, als lägen die Probleme ausschließlich bei den anderen, dass es dabei nicht um Werte geht, sondern um Wert, auch das klingt an, wenn Terziyans Lehrerin ruft: „Rausgeschmissenes Geld seid ihr!“. In dieser großartigen Sturm-und-Drang-Inszenierung steckt alles drin, während draußen die Bocksgesänge in der Debatte um Sarrazins Buch weiter anschwellen.

Eine sehr smarte Provokation gönnt Erpulat sich noch. Und zwar, indem er am Ende die Schüler eine Wandlung zu Vorzeige-Humanisten und Vollblut-Demokraten vollziehen lässt, preußischer als die Preußen. Was die Frage aufwirft, ob wir das wirklich wollen. Und auf wen wir denn herabblicken, sollte das geliebte Schreckbild wegfallen? Das Ensemble singt uns zum Stand der Dinge noch eine schöne Weise aus dem Volksliederbuch. Ein Schlaflied.

11. bis 14. September, jeweils 20 Uhr

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