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Kultur: Schlammschlacht

Der spanische Künstler Santiago Sierra schickt die Besucher der Kestnergesellschaft Hannover mitten in den braunen Sumpf

Mehr noch als vom Anschauen lebt Santiago Sierras Kunst vom Hörensagen. Was hat er bislang nicht schon alles getan? Asylbewerber in Kartons gesteckt, Kubanern für ein paar Devisen einen Strich auf den Rücken tätowiert. Nur hat kaum jemand den in Mexiko lebenden Spanier die Aktionen tatsächlich ausführen sehen. Die anstößigen Geschichten sind durch ausgestellte Objekte und Videodokumentationen, spätere Behauptungen des Künstlers und Interpretationen der Kritiker überliefert. Die Installationen selbst waren bislang eher spröde: nackte Wände, immer wieder Kuben, eine Hommage an die Minimal Art der sechziger Jahre.

Jetzt ist zum ersten Mal eine Installation des 38-Jährigen in Deutschland zu erleben, und sie ist sinnlicher als alle anderen: Sie riecht und glitscht, klebt und gluckert, lässt die Besucher versinken und bleibt an ihnen haften. Sierra hat das Erdgeschoss der Kestnergesellschaft mit Schlamm gefüllt. Bis weit über die Knöchel taucht man barfuß oder in Gummistiefeln in den Matsch. Wer sich aus der dunklen Masse befreit hat, riecht ein wenig modrig und schleppt die Schlammreste durchs Haus, quer durch den White Cube im zweiten Stock. Dort haben andere Besucher schon ihre Spuren auf dem weißen Teppich hinterlassen – nicht zuletzt Kinder.

Das gab bereits Ärger: Die lieben Kleinen dürfen jetzt nicht mehr ohne Begleitung in die Ausstellung, und ohnehin darf sich nur mehr jeweils ein Besucher im Schlamm bewegen. Im übrigen erinnert das Ganze an die Moor-Aktionen von Joseph Beuys oder die „Mud Circles“ von Richard Long.

Doch geht es hier nicht um Lehm als den alten Stoff der Künstler und Götter, auch nicht um das Verhältnis von Natur und Kunst. Es ist nicht irgendeine Erde, die ins Museum einbricht, sondern Schlamm, der eigentlich aus dem Maschsee kommen sollte, wäre das nicht mit Gesundheitsrisiken verbunden gewesen. Jener See liefert diesmal die dunkle Erzählung zum Sierra-Werk. Das Binnengewässer wurde von 1934 bis 1936 in Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen angelegt. Auf Maschinen wurde verzichtet, um mehr Erwerbslose zum Stundenlohn von 64 Pfennig einzustellen. Das NS-Regime erhoffte sich damit „Erziehung durch Arbeit“. Das Ausstellungsplakat zeigt die Maschsee-Arbeiter von damals; der interessante Katalog würdigt ausführlich ihre Geschichte. Sierra betont, ihm gehe es um Ausbeutung durch Arbeit als überzeitliches Phänomen. Heikel wird das erst, weil er ausgerechnet ein Stück NS-Historie als stellvertretend für Arbeitsmarktpolitik im Allgemeinen nimmt. Heikel wird es erst recht, weil die Kuratorin Hilke Wagner ihren Künstler nicht vor haltlosen NS-Parallelen bewahrt, sondern sich im Gegenteil noch bei der Agentur für Arbeit um Ein-Euro-Jobber für den Matschtransport bemühte. Die Sachbearbeiterin lehnte ab mit der Begründung, Schlammschleppen für die Kunst diene nicht der Wiedereingliederung ins Arbeitsleben. Damit ersparte sie der Kestnergesellschaft eine Blamage – und bewies nebenbei, wie abstrus ein Vergleich aktueller Politik mit der Blut-und-Boden-Arbeitsideologie des Dritten Reichs ist.

Nun also waren es gut bezahlte Arbeitskräfte, die für das Kunstwerk nicht den Maschsee, sondern ein ungefährliches Moorgebiet ausbuddelten. Solche Fakten lassen diesmal keinen Raum für düstere Menschenschinder-Stories um Santiago Sierra: Die neue Installation operiert ganz im Symbolischen. Doch hier, im Bildhaften, versteckt sich die eigentliche Zumutung. Sie liegt nicht in dem Hinweis, dass den Deutschen noch brauner Dreck an den Hacken haftet. Sie liegt in der Behauptung, wir müssten ihn notgedrungen in die Welt hinaustragen, so wie die Kunstbesucher nolens volens das Ausstellungshaus beschmutzen.

Dies ist besonders perfide, da die Kestnergesellschaft noch während des Maschseebaus unter ihrem couragierten jüdischen Direktor Justus Bier „entartete“ Kunst zeigte und deshalb 1936 geschlossen wurde. Die oberen Räume nun sehen in der aktuellen Installation aus wie frisch geräumt, es liegen sogar Papierreste wie nach einem Auszug herum.

In Sierras symbolischer Inszenierung agieren die Besucher wie die Horden, die den braunen Sumpf in das eben geschlossene Institut schleppen. Der Künstler knüpft damit an eine Form der Publikumsbeschimpfung an, die schon sein Vorbild Hans Haacke auf der Biennale von Venedig 1993 im Deutschen Pavillon ausprobierte: Da lagen unter einem Hitlerbild und dem Schriftzug „Germania“ aufgerissene Bodenplatten aus, die der Besucher mit jedem Schritt weiter kaputt treten musste.

Den Besucher so als Täter und Zerstörer einzusetzen, ist das Recht des Künstlers. Es ist jedoch das Recht des Publikums, ebendies zu missbilligen.

Hannover, Kestnergesellschaft, bis 10. April. Katalog bei Hatje Cantz in Vorbereitung. Weiteres unter www.kestner.org

Kia Vahland

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