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Schloss Sanssouci: Bildergalerie Potsdam: Neun aus neunundneunzig

Ein Krimi, eine Sensation: Die Bildergalerie in Potsdam erhält nach über fünfzig Jahren verschollene Gemälde zurück. Endlich wird das Konzept Friedrichs II. für seine Galerie sichtbar.

Vergnügt strampelt das Jesuskind, das fleischig-rosige Ärmchen langt der Mutter ins Gesicht. Zart schimmern die dünnen blonden Härchen auf dem Kopf, der Schädelknochen ist bläulich unter der Haut zu erkennen. Und Maria, die dem Kind ihre Brust zum Trinken entblößt, schaut ernst und hingebungsvoll ihr Söhnchen an. „Maria Lactans“, die stillende Maria, ist eine hinreißend intime Szene. Und es ist ein wunderbares Bild, hervorragend erhalten, mit schimmerndem Inkarnat und schön nachgedunkeltem und erhaltenem Firnis.

Sogar der originale Rahmen war in den Depots noch vorhanden. Noch ist das Bild, das um 1614 entstand und in mehreren Versionen existiert, Peter Paul Rubens als Werkstattarbeit zugeschrieben. Nicht ausgeschlossen jedoch, dass es sich bei der hervorragenden Potsdamer Version auch um ein eigenhändiges Werk handeln könnte. Der Wert könnte dann in höhere sechsstellige Bereiche schnellen.

Doch von Kunstmarktspekulationen will Samuel Wittwer an diesem strahlenden Donnerstagmorgen in der Potsdamer Bildergalerie am Fuße von Schloss Sanssouci nichts wissen. Nicht um Geld geht es hier, nicht vorrangig zumindest, sondern um eine veritable kulturhistorische Sensation.

Die Gemäldegalerie Friedrichs II., die er 1755 bis 1763 erbaute und die einst über rund 180 Bilder verfügte, bevor sie durch die Kriegswirren zwei Drittel ihres Bestandes verlor, hat auf einen Schlag zehn Prozent der Fehlstellen füllen können. Neun von 99 vermissten Bildern sind durch einen glücklichen Zufall zurückgekommen, dazu ein Bild des Hofmalers Antoine Pesne, das ursprünglich im Neuen Palais hing.

Die Geschichte dieser Rückkehr ist eine Krimigeschichte voller falscher Identitäten und Schutzbehauptungen, eine Geschichte von Angst und schlechtem Gewissen, aber auch von Verantwortungsbewusstsein, Ehrlichkeit, Großzügigkeit. Es ist eine Geschichte, das wird nach der Schilderung von Samuel Wittwer, dem Schlösserdirektor der Stiftung Preußische Schlösser und Gärten, deutlich, wie sie sich noch unendlich oft wiederholen könnte – und wie sie es leider viel zu selten tut.

„Wir gehen davon aus, dass ,private Übernahmen‘ in den letzten Kriegswirren noch häufiger vorkamen, als bislang angenommen,“ formuliert es Hartmut Dorgerloh, der Chef der Schlösserstiftung, euphemistisch. Man könnte es auch Diebstahl nennen. Und relativ selten kommt etwas zurück, wird manchmal anonym in einer Plastiktüte abgegeben. Auch deshalb der Pomp, die Begeisterung, mit der in Potsdam dieser Fund präsentiert wird.

Es begann alles in Rheinsberg, in den letzten Kriegsmonaten. 1942 waren die Bestände der Potsdamer Bildergalerie hierher ausgelagert worden, aus Schutz vor Bombardierung und Kriegsunruhen. Im Schloss, in den Räumen der heutigen Tucholsky-Gedenkstätte, lebten der Rheinsberger Kastellan und seine Frau Olga Birkemeier. Als die russischen Truppen näherrückten, und Gerüchte von Plünderung und Zerstörung die Runde machten, entschloss Birkemeier sich, zehn kleinformatige Bilder sicherzustellen. Ihrer Schwester in Ost-Berlin, die die Bilder nach dem Krieg übernahm, erzählte sie, sie habe die Kunstwerke als Entschädigung für verlorenes Hab und Gut erhalten. Die Russen hatten sie aus dem Schloss vertrieben, sie offenbar auch misshandelt und eingesperrt. Die Angst, etwas über die „sichergestellten“ Bilder zu erzählen, war groß: Es hätte die Todesstrafe gedroht.

In Ost-Berlin verliert sich die Spur, die Bilder ruhen, hinter dem Sofa und in einem Wäscheschrank. Erst die übernächste Generation, die Enkelin der Schwester, wird Jahrzehnte später wieder aktiv. Sie findet die Bilder „hässlich“, zu viele nackte Figuren darauf, und erwägt, sie mit ihrem Lebensgefährten über ein Auktionshaus zu verkaufen. Man glaubt, gemäß der Entschädigungsgeschichte, über die Großtante rechtmäßiger Eigentümer geworden zu sein. Oder will es zumindest glauben.

Und hier schließt sich der Kreis zur Gemäldegalerie. Inzwischen ist von Gerd Bartoschek ein umfangreicher Katalog der Kriegsverluste erarbeitet worden. Der Auktionator Christian Gründel, Mitbesitzer des Auktionshauses Historia in Schöneberg, dem auf der Rückseite der zunächst angebotenen drei Bilder die Inventarnummern der Bildergalerie auffallen, schlägt im Katalog nach, erkennt die Bilder, informiert die Stiftung. Auch der „junge Mann“, wie der Einlieferer, dem Anonymität zugesichert wurde, genannt wird, kontaktiert die Stiftung, kommt vorbei – und packt zum Erstaunen von Samuel Wittwer nicht die drei niederländischen Bilder aus, von denen der Auktionator gesprochen hatte, sondern vier, darunter zwei Rubens-Motive.

Und nicht genug. Als man die Familie in ihrer Wohnung besucht, um Näheres über die Bilder zu erfahren heißt es: „Ach, übrigens, wir haben da noch drei weitere Bilder im Schrank. Vielleicht sind die auch von Ihnen?“ Es sind drei kleinformatige, ovale Kopien des Rembrandt-Schülers Gerard Dou, zwei davon Kopien von Rembrandt-Gemälden, die in der Kasseler Gemäldegalerie hängen. Ein überglücklicher Samuel Wittwer darf auch sie gleich mitnehmen. Insgesamt kehren zehn Bilder zurück.

Wer möchte in der Situation der alten Dame gewesen sein – Olga Birkemeier starb 1996 –, die ihr Leben lang ihr Geheimnis mit sich trug und noch vor ihrem Tod dem Kustos von Rheinsberg anvertraute: „Wenn ich mal sterbe, bekommen die Schlösser etwas zurück.“ Wer möchte mit den Erben tauschen, die sich ohne Zögern entschlossen, die Bilder an den angestammten Ort zu restituieren. Einen „Finderlohn“ hat die Stiftung gezahlt, wie sie es immer tut in solchen Fällen. Auf dem Kunstmarkt, wo die Interessenten einander überbieten, wären ganz andere Summen fällig gewesen.

Für die Bildergalerie ist die Rückgabe tatsächlich eine Sensation. Die am schwersten durch Kriegsverluste betroffene Institution kann mit einem Schlag eine dramatische Lücke füllen. Hatte Friedrich II., der den Museumsplan in einem Brief an Schwester Wilhelmine als seine „Torheit“ bezeichnete, doch ganz systematisch nach dem Geschmack der Zeit gekauft und für die Erwerbungen eine Idealpräsentation entwickelt. Sie orientierte sich an ähnlichen Sammlungen in Kassel, München und Düsseldorf – und präsentierte auf der einen Seite der prächtigen Galerie die Italiener, auf der anderen Seite die Niederländer, und im Kabinett die Kleinformate.

Eben jenes Kabinett hat nun entscheidende Lücken gefüllt. Plötzlich ist erkennbar, dass Friedrich II. und seine Berater in Bilderpaaren dachten, die Gemälde wie Nicolas Vleughels „Loth und seine Töchter“ und Jean Raoux’ hinreißende „Bathseba im Bade“ als Pendants arrangierten. Dass unter den Erwerbungen, wie sich inzwischen herausstellt, relativ viele Kopien sind – es ist der damaligen immensen Nachfrage geschuldet. Für Potsdam sind die „hässlichen Bilder“ mit zu vielen Nackten darauf ein spätes, überraschendes, beglückendes Geschenk. 2012, zu Friedrichs 300. Geburtstag, sollen sie restauriert an alter Stelle präsentiert werden. In diesem Sommer sind sie erst mal provisorisch zu sehen.

Bildergalerie Schloss Sanssouci, Potsdam, Öffnungszeiten: Mai bis Oktober, Dienstag bis Sonntag 10 bis 18 Uhr.

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