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Die norwegische Autorin Erika Fatland hält die Eröffnungsrede der Frankfurter Buchmesse 2019.

© Frank Rumpenhorst/dpa

Eröffnungsrede der Frankfurter Buchmesse: Schlüssel für ein besseres Leben

Es ist beinahe rührend, wie sehr Diktatoren das Buch fürchten. Und erstaunlich, wie sie seine Bedeutung erkennen. Die Rede der norwegischen Autorin Erika Fatland.

Dies ist in - leicht gekürzter Form - die Rede, die die norwegische Schriftstellerin Erika Fatland am Dienstag bei der Eröffnung der Frankfurter Buchmesse hielt. Aus dem Norwegischen von Ulrich Sonnenberg.

Ich war ein einsames und seltsames Kind, und ein noch einsamerer und seltsamerer Teenager. Aber ich fühlte mich niemals allein, denn ich hatte Bücher. Ich las ständig, in den Pausen in der Schule und am Mittagstisch; ich entwickelte eine Technik, bei der ich lesend im Haus umhergehen konnte. Meine Jugendrevolte bestand darin, dass ich die obligatorische sonntägliche Wanderung mit der Familie schwänzte, um Hamsun zu lesen.

Es klingt möglicherweise nicht gravierend, aber in meiner westnorwegischen Familie war dies so, als würde man vor dem Frühstück Schnaps trinken oder am Wochenende harte Drogen nehmen. Mein Vater war ernsthaft besorgt, dass ich mir auf Dauer die Augen verderbe – und wer weiß, vielleicht hatte er recht, denn ich stehe heute mit Kontaktlinsen vor Ihnen, von denen ich vollkommen abhängig bin, um die Konturen der Welt deutlich zu sehen. Mein Vater, inzwischen über sechzig Jahre alt, braucht nicht einmal eine Lesebrille, aber er liest auch nicht. Und damit entgeht ihm die allerwichtigste Erfindung der Menschheit überhaupt.

Im letzten Jahr bin ich im Großen und Ganzen auf Reisen gewesen. „Wie gewöhnlich“, würde mein Ehemann, auch er ein Schriftsteller, hinzufügen, der aus irgendeinem Grund begonnen hat, eine Statistik über meine Reiseaktivitäten zu führen. Ich bin durch eine der schönsten, kulturell vielfältigsten, aber gleichzeitig auch ärmsten und unterentwickeltsten Regionen der Erde gereist: den Himalaya.

Abgesehen von den Gebetsstreifen der Mönche mit alten, oft handgeschriebenen Texten in den Klöstern, habe ich nahezu kein Buch im Himalaya gesehen. Ein Buch war und ist ein unerhörter Luxus. Schulbesuch war Luxus. Und gleichzeitig der Schlüssel zu einem besseren Leben. Oft habe ich das Leuchten in den Augen eines Kindes gesehen, das Lesen und Schreiben gelernt hat. Man kann den Unterschied tatsächlich sehen.

Grenzen werden immer rigider

Die Sherpas, denen ich im Everest Base Camp begegnete, sparten Geld, um ihre Kinder nach Katmandu zu schicken, damit sie eine gute Ausbildung bekommen und nicht ebenfalls ihr Leben riskieren müssen, damit reiche, westliche Bergsteiger auf dem höchsten Berg der Welt ein Selfie schießen können.

Es heißt, die Welt wird immer kleiner, aber die Welt ist ebenso groß, wie sie es immer gewesen ist, nämlich 510.072.000 Quadratkilometer. Es liegt nur daran, dass immer mehr Menschen aus der Mittelklasse an exakt dieselben Orte reisen.

Es ist auch nicht wahr, dass unsere globalisierte Welt immer grenzenloser wird, im Gegenteil, die Grenzen und Schranken sind wahrscheinlich noch nie so rigide gewesen wie heute. Vor achtzig, neunzig Jahren führten zum Beispiel noch Karawanenrouten kreuz und quer durch den Himalaya. Händler überquerten die Berge auf Kamelen, Pferden und Jak-Ochsen.

Heute sind im Hochgebirge Asphaltstraßen gebaut, und es ist sehr viel einfacher und angenehmer, von einem Ort zum anderen zu kommen. Aber moderne Reisende treffen auf mürrische Grenzposten und komplizierte Visaregelungen. Nach der Teilung von Indien und Pakistan 1947, und nach Chinas Annektierung von Tibet in den fünfziger Jahren, wurden die Grenzen in Stein gemeißelt, die alten Handelsrouten sind ausgestorben.

Erlebnisse mit einer chinesischen Zollkontrolle

In Tibet ist der Analphabetismus kein Problem mehr, das Problem ist die Skepsis des Regimes dem geschriebenen Wort und der eigenen Bevölkerung gegenüber. Die Zöllner an der chinesischen Grenzstation waren nur an einer einzigen Sache interessiert. Mit imponierender Effektivität fischten sie die vier Bücher heraus, die in meine Koffer verteilt lagen. Die Romantrilogie des isländischen Schriftsteller Jón Kalman Stefánsson wurde behandelt, als enthielten die Bücher lebensgefährliches, radioaktives Material.

Kurz vor Lhasa lernte ich eine ältere Frau kennen, die mir erzählte, die einzig gemütliche Beschäftigung im Winter wäre für sie und ihre Nachbarin, sich im Dorfgemeinschaftshaus zu treffen und gemeinsam buddhistische Texte zu lesen.

Aber das dürfen sie nicht mehr.

Auf einer anderen Reise in ein kleines Dorf im Norden Nordkoreas kam einer der Gastgeber angerannt, als wir uns gerade in den Kleinbus setzten. In der Hand hielt er ein Taschenbuch.

„Wer hat das vergessen?“, fragte er gestresst. – „Das ist meins, aber ich habe es ausgelesen, Sie können es wegwerfen“, antwortete eine niederländische Touristin. – „Es ist sicherlich am besten, wenn Sie es wieder an sich nehmen“, erwiderte der Nordkoreaner. –„Ich brauche es wirklich nicht mehr, es kann weggeworfen werden“, wiederholte die Niederländerin. – „Es ist am besten, wenn Sie es zurücknehmen“, beharrte der Nordkoreaner und schob der Touristin das Buch zu. Das Buch, um das es ging, war ein Thriller von Ken Follett – kaum ein Buch, das das Regime hätte zu Fall bringen können.

Eine Ibsen-Inszenierung kann immer noch gefährlich sein

Diktatoren fürchten das geschriebene Wort. Es ist schon beinahe rührend, wie sehr sie Bücher fürchten.

Denn Worte können tatsächlich gefährlich sein. Noch immer ist es in vielen Ländern mit großem persönlichem Risiko verbunden, Henrik Ibsens „Ein Volksfeind“ zu inszenieren – einhundertsechsunddreißig Jahre nachdem diese Brandfackel von einem Theaterstück Premiere hatte. Ja, sogar in meinem eigenen Land Norwegen, das weit entfernt von irgendeiner Diktatur ist, wurde kürzlich eine Theaterproduktion von der Regierungschefin kritisiert, weil der Inhalt für einzelne Politiker offenbar problematisch war.

Diktatoren, um auf sie zurückzukommen, können auch einen übertriebenen Glauben an die eigenen literarischen Leistungen entwickeln. Der erste Präsident Turkmenistans, Saparmyrat Nijasow, besser bekannt als Turkmenbaschi, veröffentlichte 2001 den ersten Band der Ruhnama, das „Buch der Seele“, ein Großwerk über die turkmenische Geschichte und Kultur.

Das Buch wurde zum obligatorischen Pensum für absolut sämtliche Schulklassen, unnötige Fächer wie Algebra und Physik wurden ersetzt durch Studien von „Saparmyrat Nijasows literarischem Erbe“. Den Imamen wurde befohlen, in den Moscheen aus der Ruhnama zu predigen, bei der Führerscheinprüfung wurden Examina in Ruhnama als obligatorischer Teil eingeführt, und sämtliche Bibliotheken außerhalb der Hauptstadt wurden geschlossen. Das Volk hatte die Ruhnama, was brauchte es mehr?

Turkmenbaschi starb 2006, ihm folgte sein Zahnarzt Gurbanguly Berdimuhamedow, besser bekannt als Arkadag, „der Beschützer“. Es ist vermutlich unnötig hinzuzufügen, dass auch Arkadag ein eifriger, inzwischen mit unglaublich vielen Preisen ausgezeichneter Autor ist. Die Diktatoren in Turkmenistan haben zumindest etwas Wesentliches begriffen: Sie haben die Bedeutung des Buches erkannt.

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