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Kultur: Schmerzgrenzen

Es kommt nicht alle Tage vor, daß ein französischer Minister am Kabinettstisch deutsche Dichter zitiert.Doch eben dies geschah vor einer Woche im Matignon.

Es kommt nicht alle Tage vor, daß ein französischer Minister am Kabinettstisch deutsche Dichter zitiert.Doch eben dies geschah vor einer Woche im Matignon.Innenminister Chevénement, sonst den Deutschen nicht übermäßig gewogen, verteilte am Ende der Sitzung unter seinen Kollegen eine Fotokopie mit Zitaten von Hans Magnus Enzensberger.Über den Kosovo-Konflikt, sagte er dazu, wolle er sich nicht äußern."Aber dieser Text hier gibt meine Gedanken wieder.Nehmen Sie ihn als meine Philosophie." Der fotokopierte Text stammte aus zwei Aufsätzen, "Die große Wanderung" und "Aussichten auf den Bürgerkrieg", in denen Enzensberger vor moralischen Allmachtsphantasien und einer Politik gewarnt hatte, die den Unterschied zwischen den nationalen Interessen und dem Wohlbefinden der Menschheit aus dem Blick verliert.

Auf seine Erhebung zum französischen Staatsphilosophen angesprochen, zeigte sich der Dichter zunächst geschmeichelt: "Ein deutscher Minister würde einen solchen Text sicherlich nie lesen." Doch dann ging er zu Chevénement auf Distanz.Er habe humanitäre Interventionen keineswegs grundsätzlich ausschließen wollen.Das Argument, da man den Kurden nicht geholfen habe, dürfe man auch dem Kosovo nicht helfen, überzeuge ihn nicht: "Würde man denn sagen: Ich habe nicht das Recht, einem Bettler zehn Francs zu geben, wenn ich nicht allen Bettlern zehn Francs gebe? Das wäre doch absurd."

Der von seinem Eideshelfer im Stich gelassene Innenminister braucht dennoch nicht zu verzagen.Auf der nächsten Kabinettssitzung kann er ein Blatt mit einer anderen deutschen Quelle verteilen - Otto von Bismarck.1886, als es in Bulgarien hoch herging, erhielt der deutsche Generalkonsul in Sofia, von Thielmann, aus Berlin einen scharfen Verweis."Der Herr Reichskanzler bittet Herrn von Thielmann zu antworten, der Bericht mache ihm im ganzen den Eindruck, als ob der Verfasser unter der Last der ehrenvollen, aber in der Politik unanwendbaren Tradition unserer Landsleute stände, ein gemütliches Interesse daran zu nehmen, daß es in dem Lande, bei dem er akkreditiert sei, nach Recht und Billigkeit hergehe.Seine Durchlaucht mache den kaiserlichen Generalkonsul darauf aufmerksam, daß ein staatliches Interesse des Deutschen Rechtes daran nicht vorhanden sei, sondern daß wir die Aufgabe hätten, uns frei zu halten von jedem Schritt, der uns aus der Linie der ausschließlich deutschen Interessen herausschieben könnte.Die Zukunft der Bulgaren könne für uns ein menschliches, das Land Bulgarien aber kein politisches Interesse haben."

Mit seiner kaltschnäuzigen Staatsräson stand Bismarck keineswegs allein.Zwar nahm die öffentliche Meinung Europas an der Unterdrückung Polens leidenschaftlich Anteil, aber keine Hand regte sich, um das russische Joch zu brechen.Lajos Kossuth, der Führer der Ungarn, wurde in England und Amerika wie ein König gefeiert, doch die Regierungen beider Länder sahen tatenlos zu, als Österreich und Rußland seine Rebellion erstickten.Heute sind die schärfsten Gegner des Selbstbestimmungsrechts bei den Vereinten Nationen zu finden.Das klingt paradox und ist doch wahr.Die Charta erwähnt das Selbstbestimmungsrecht nur in ganz unverbindlicher Form.In der Praxis wurde es auf den Anspruch der Kolonien eingeengt, sich von ihrer Kolonialherrschaft zu befreien.Aber dabei ging es genau genommen nicht um Völker, sondern um Territorien.Die von den Kolonialmächten gezogenen Grenzen galten als sakrosankt.Um die unterdrückten Völker Osteuropas kümmerten sich die Vereinten Nationen ebensowenig wie um die chinesische Annexion Tibets.Europäern wurde die Berufung auf das Selbstbestimmungsrecht sogar ausdrücklich verweigert.Obwohl die Bevölkerung von Gibraltar mit überwältigender Mehrheit für den Status quo eintrat, fordert die von der "Dritten Welt" beherrschte Generalversammlung Großbritanniens Jahr für Jahr auf, die Kronkolonie zu "entkolonialisieren".

Ganz anders reagierte die "Dritte Welt", wenn sich sezessionistische Kräfte innerhalb ihres eigenen Machtbereichs regten.Als sich im Juli 1960 die Provinz Katanga von dem soeben unabhängig gewordenen Kongo lossagte, entsandten die Vereinten Nationen Truppen, um den Aufstand niederzuschlagen.Nach dreijährigem Kampf gaben die Separatisten auf.1967 erklärten sich die Ibos im Osten Nigerias für unabhängig.Die Generalversammlung zog es vor, den peinlichen Vorfall zu ignorieren.Erst zwei Jahre später, nachdem der Bürgerkrieg Zehntausende von Todesopfern gekostet hatte, raffte sich der birmanische Generalsekretär U Thant zu einigen bedauernden Worten auf.Auch diese Sezession scheiterte.Vor diesem Hintergrund wird verständlich, warum man am East River die Auflösung Jugoslawiens mit Unbehagen verfolgt.

Für das Unbehagen gibt es gute Gründe.Da die meisten Grenzen in Afrika und Asien auf die Volkszugehörigkeit der Bewohner keine Rücksicht nehmen, würde die konsequente Durchsetzung des Selbstbestimmungsrechts zu einer Explosion der Staaten führen.Aber auch Europa wäre vor Erschütterungen nicht sicher.Wenn Slowaken und Slowenen das Selbstbestimmungsrecht beanspruchen können, warum nicht auch Basken und Bayern? Als Woodrow Wilson auf der Versailler Friedenskonferenz die Neuordnung Europas unter den Grundsatz des Selbstbestimmungsrechts stellte, warnte ihn sein Außenminister Lansing, dieses hehre Prinzip werde Ströme von Blut fließen lassen.Lansing sollte mit seiner Prophezeiung recht behalten.Jugoslawien, das heute so blutig zerfällt, ist ein Geschöpf Wilsons.Bill Clinton muß auslöffeln, was ihm sein Amtsvorgänger einbrockte.

JÖRG VON UTHMANN

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