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Dirigent Vladimir Jurowski

© Roman Gontcharov

Musik in Berlin: Schöne Bescherung

Zweimal Weihnachtsmusik: Der Noon Song in der Kirche am Hohenzollernplatz und Tschaikowskys „Nussknacker“ mit dem RSB in der Philharmonie.

„Kraftwerk Gottes“ nennen manche die Kirche am Hohenzollernplatz. Und in der Tat wirkt das 1933 geweihte expressionistische Backsteingebäude von außen wie ein Industriebau, mit seinem schornsteinschlanken Glockenturm und den gewaltig aufragenden, nur von schmalen Fensterbändern durchzogenen Mauern. Um so erstaunter ist der Besucher, kaum dass er eintritt. In größtmöglichem Kontrast zur kantigen Fassade steht der Innenraum. 13 Spitzbögen wölben sich weich über den Köpfen der Kirchgänger, so als ob der Rumpf einer Arche umgedreht worden wäre. Ein wahres Kirchenschiff, ein Ort, der Geborgenheit ausstrahlt.

Seit 2008 findet hier samstags der Noon Song statt. Nach anglikanischem Vorbild gestaltet Chorleiter Stefan Schuck mit dem Profiensemble „Sirventes Berlin“ die kurzen, mittäglichen Konzerte, die zur inneren Einkehr laden. Aufwendiger als sonst geht es jeweils beim letzten Noon Song vor Weihnachten zu. Geradezu katholisch wirkt die Inszenierung am 23. Dezember, die vier Sängerinnen und vier Sänger tragen rote Roben, ein 28-seitiges Programmheft erteilt strikte Regieanweisungen, wann man sich zu erheben und wieder zu setzen hat und wie in den Chorälen der Wechsel von Profis und Gemeinde abläuft. Ist das Plenum dran, flammen jeweils die Scheinwerfer in den Seitenschiffen hell auf, und die Orgel setzt unterstützend ein.

Der Gesang begeistert, die Textauswahl verstört

Von allerhöchster Raumklang-Raffinesse sind die mehrstimmigen „Carols“ der Profis. Schwerelos schweben ihre Stimmen, vom Kirchenhall mit akustischem Goldschimmer veredelt, das Stilspektrum reicht vom lateinischer Psalter bis zur Uraufführung einer meditativen Komposition von Jacek Sykulski.

So erhebend der Gesang als Kontrast zum trubeligen Treiben auf dem nahen Kudamm wirkt, so verstörend ist die Auswahl der Bibelstellen, die zwischendurch vorgetragen werden. Und zwar nicht nur für musikinteressierte Atheisten, sondern auch für treue Kirchensteuerzahler. Neben der einschlägigen Geschichte von der Geburt Jesu sind hier lauter Passagen versammelt, mit denen sich Menschen schwer tun, die das Christentum vor allem als lebenspraktische Wertegemeinschaft verstehen, von der unbefleckten Empfängnis über das Mysterium der Fleischwerdung des Wortes bis zur Verheißung an Abraham: „Deine Nachkommen werden das Tor ihrer Feinde einnehmen“.

Hat die Kirche im Jahr 2017 wirklich keine anderen Angebote? Unbegreiflich auch, dass eine Chorsängerin ungerührt diese Zeilen aus der Genesis vorträgt: „Zur Frau sprach er: Nach deinem Mann hast du Verlangen und er wird über dich herrschen“. Und dass dies dann unkommentiert so stehen bleibt.

Dirigent Jurowski liebt diese Musik, das spürt man

Abends steht in der Philharmonie dann ein Weihnachtsstück auf dem Programm, das ein Märchen ist, mit Jesu Geburt und christlichem Wunderglauben nichts zu tun hat, sondern eher zufällig an Heiligabend spielt. „Der Nussknacker“ nämlich, Tschaikowskys Ballett nach E.T.A. Hoffmann. Genau vor einem Jahr hat sich Marek Janowski als Chefdirigent des Rundfunk-Sinfonieorchesters hier mit einer konzertanten Aufführung der Oper „Hänsel und Gretel“ verabschiedet, jetzt dirigiert sein Nachfolger Vladimir Jurowski Tanzmusik ohne Choreografie. Das funktioniert dann, wie wenn Eltern ihren Kindern sagen: Lies doch das Buch, statt dir nur die Verfilmung anzuschauen! Sie meinen damit, dass die Kids sich aufs eigene Kopfkino bei der Lektüre verlassen sollen. Weil über die Leinwand ja die Fantasien Fremder flimmern, als Konsumangebot.

Stramm wie ein Zinnsoldat steht Vladimir Jurowski vor dem RSB, hält seine Dirigiergestik so knapp wie möglich und setzt zunächst einmal ganz auf Präzision. Um so die Musik tanzen lassen zu können, elegant und leichtfüßig. Trotz einer luxuriös vielköpfigen Besetzung, wie sie in keinen Orchestergraben passen würde. Selbst für den Kinderchor, der zum Schneeflockenwalzer ein paar Vokalisen beisteuert, haben zwei Hundertschaften auf dem Podium Platz genommen. Die vereinten vokalen Kräfte des Georg-Friedrich-Händel-Gymnasiums kommen so in den Genuss, das orchestrale Geschehen aus nächster Nähe mitzuerleben.

Dass Vladimir Jurowski diese Musik liebt, ist ab dem ersten Takt spürbar. Und doch wird es lange dauern, bis er seine strenge Kontrollhaltung aufgibt, ein wenig in den Knien federt und sich weichere, weitere Armbewegungen erlaubt. Erst als er merkt, dass alles perfekt läuft, dass der Klang angemessen duftig ist und dennoch quicklebendig, dass sich erzählerische Klarheit und akustische Opulenz im idealen Gleichgewicht befinden, lässt er nach der Pause die Zügel etwas lockerer. Und ermöglicht so den letzten Schritt zum interpretatorischen Glück: Dass nämlich alle Mitwirkenden den einen, gemeinsamen Atem finden, dass sie gemeinsam abheben, fliegen.

Der nächste Noon Song in der Kirche am Hohenzollernplatz findet am 6. Januar statt.

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