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SCHREIB Waren: Getürkte Chinesen

Steffen Richter entdeckt das Sommerloch im Literaturbetrieb

In Peking warten sie auf Regen. Der Smog gefährdet die olympischen Ausdauerwettbewerbe und sieht auch sonst nicht gut aus. Neben dreckiger Luft erwarten wir Gen-Doping und Internet-Zensur. Widersprüchlich ist China aber nicht erst seit dem hybriden Kapi-Kommunismus der letzten Jahre. Der Zwiespalt steckt schon im Grundbuch des europäischen Wissens über China, das gerade als Neuauflage im Manesse Verlag erschienen ist: Marco Polos „Il Milione“.

Einen Begriff von China hatte Polo in seinen 1298/1299 entstandenen Aufzeichnungen noch nicht. Sein „Catai“ ist Bestandteil des riesigen Tatarenreiches zwischen Sibirien und dem Irak, China und Ungarn. Und über Buddhisten, Muslimen und Christen thront Kublai Khan, Enkel des Dschingis Khan, in seiner Hauptstadt Canbaluc, dem heutigen Peking. Polo ist fassungslos angesichts der ökonomischen Potenz, des Reichtums und der Pracht. Er bestaunt die „unvorstellbar vielen Menschen“, das Papiergeld und die „sittsamen“ Mädchen: „Sie hüpfen und hopsen nicht herum.“

Vielleicht war sein Chinabild genauso unzuverlässig wie unsere heutigen Ideen. Vielleicht nämlich ist der Reisebericht von A-Z getürkt. Die Anzeichen: kein Wort über die Chinesische Mauer, keins über die Schrift, die Essstäbchen oder das Schießpulver. Auch finden sich in chinesischen Archiven keine Hinweise auf den angeblichen Vertrauten des Khans. Einiges spricht dafür, dass Polo sein Buch aus Berichten anderer Asienfahrer kompiliert hat. Der Urtext ist verschollen, es zirkulieren etwa 150 verschiedene Handschriften. Von einem klaren Chinabild sind wir jedenfalls seit 700 Jahren weit entfernt.

Mag sein, auch deswegen herrscht im Lesebetrieb Zurückhaltung: Keine Veranstaltung flankiert die Eröffnung der Olympischen Spiele. Stattdessen bietet das Sommerloch Krimis aus der Konserve – eine Hörspielfassung von Henning Mankells „Mittsommermord“ beim „Hörspielkino Sommernächte“ im Schloss Charlottenburg (9.8., 21. 30 Uhr). Oder Zweitliga-Literatur – wie Boris Fust mit seinem Praktikanten-Roman „12 Stunden sind kein Tag“ (Piper) am 10.8. (17 Uhr) im Wasch Center (Boxhagener Str. 114).

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