zum Hauptinhalt

SCHREIB Waren: Worte sind kein Nationaleigentum

Steffen Richter zählt auf die Lebenden

Zugegeben, die Toten des Zweiten Weltkriegs als nationales Gewicht in europäische Abstimmungsvorgänge einzubringen – darauf muss man erst mal kommen. Jedenfalls bezeugt die Idee des polnischen Ministerpräsidenten Kaczynski, abgesehen von geistiger Unkonventionalität, ein in Blüte stehendes Nationalstaatsdenken. Und das macht – Europa hin oder her – keine Anstalten, sich zu verabschieden.

Der klassische Nationalstaat beruht auf der Einheit von Staatsgebiet, Staatsgewalt und Staatsvolk. Doch damit hapert es nicht erst seit Internet und Interpol, seit der grenzüberschreitenden Ökonomie und den Migrationsbewegungen, die homogene Staatsvölker durchmischen. Die Folge sind kulturelle Mehrfachcodierungen. Die können verschiedenste historische Gründe und Formen haben. Das in Spanien mit einem Autonomiestatus ausgestattete Katalonien etwa wurde lange Zeit – namentlich unter Franco – kulturell und sprachlich ins Abseits gedrängt. Nun will es eine Nation sein und sich wie eine Nation als Gastland auf der diesjährigen Frankfurter Buchmesse präsentieren. Schon aber wird darüber gestritten, wer nach Frankfurt fahren darf – und wer das überhaupt will. Denn viele in Katalonien geborene Schriftsteller schreiben auf Spanisch und fallen somit durchs Raster der katalanischen Nationalkultur. Großartige Autoren wie Juan Marsé, Juan Goytisolo, Javier Cercas oder Enrique Vila-Matas wird man deshalb in Frankfurt vermutlich nicht sehen. Einige werfen dem katalanischen Kulturinstitut Ramon Llull, das den Frankfurter Auftritt betreut, sogar eine nationalistische Ausgrenzung des Spanischen vor. Immerhin, in Berlin arbeiten die Katalanen mit dem spanischen Instituto Cervantes zusammen. Dort (Rosenstr. 18/19, Mitte) findet am 27.6. (17 Uhr) die Eröffnung der Ausstellung „Worte in Freiheit. Konkrete Poesie Kataloniens“ statt. Es geht um die Verbindung von Bildern und Schreiben in Arbeiten von Joan Brossa, Guillem Viladot und Iglesias Del Marquet. Auch der wohl berühmteste konkrete Poet Eugen Gomringer kommt zu einer Podiumsdiskussion (19 Uhr 30). Beteiligt ist zudem das Poesiefestival Berlin, in dessen Rahmen die Ausstellung stattfindet.

Das Poesiefestival selbst stellt in diesem Jahr allerdings eine andere Doppelcodierung ins Zentrum, nämlich die kanadische. Wie man in einem Staat mit zwei Sprachen – Englisch und Französisch – umgeht, kann man in zwei „Poesiegesprächen“ (heute und am 27.6., jeweils 18 Uhr 30) im Maschinenhaus der Kulturbrauerei (Knaackstr. 97, Prenzlauer Berg) erfahren. Beim VERSschmuggel an denselben Tagen (jeweils 20 Uhr im Palais) übersetzen sich deutsche und kanadische Lyriker (wie Sabine Scho, Lutz Seiler oder Nico Bleutge und Hélène Dorion, Claude Beausoleil oder Paul Vermeersch) gegenseitig. Ob sich ein Dichter aus Quebec eher der französischen Sprachgemeinschaft oder der kanadischen Nation zugehörig fühlt, ob er irgendwie auch Nordamerikaner ist oder vor lauter Begeisterung für das Poesiefestival gar ein Berliner sein will, wird sich zeigen. Vielleicht sollte man sich im 21. Jahrhundert endlich daran gewöhnen, mehrere Zugehörigkeiten gleichzeitig zu akzeptieren.

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false