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Vorsichtiger Optimismus. Boualem Sansal, 1949 im algerischen Theniet el Had geboren, lässt sich nicht ins Exil zwingen. Foto: AFP

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Kultur: Schreiben im Freiluftgefängnis

Staatsfeind Nummer eins: eine Begegnung mit dem algerischen Friedenspreisträger Boualem Sansal

In seiner Heimat ist er noch immer eine Randfigur. Als im Juni bekannt gegeben wurde, dass Boualem Sansal zur Frankfurter Buchmesse im Oktober den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels erhalten wird, war das in Algerien kein Thema. Selbst die führende unabhängige Tageszeitung „El Watan“ brachte nur ein paar Sätze. Niemand außer der von ihm bewunderten Autorin Maïssa Bey beglückwünschte ihn. Von Regierungsseite keine Reaktion.

Dafür hat der Schriftsteller in Frankreich einen Namen, wo er nun in den Räumen seines Pariser Verlags Gallimard den Roman „Rue Darwin“ vorstellte. Im Westen Algeriens aufgewachsen, war Sansal sein Leben lang ein leidenschaftlicher Leser, auch während seiner Beamtenlaufbahn. Ingenieur und Volkswirtschaftler verfasste er Fachliteratur über „Die Messung von Produktivität“ und „Die Nachverbrennung in Turboreaktoren“. Der auf Französisch schreibende Sansal lernte Latein und Griechisch und wäre seinen literarischen Interessen wahrscheinlich früher gefolgt, wenn die Machthaber nach der Unabhängigkeit Algeriens 1962 nicht andere Schwerpunkte gesetzt hätten.

„Die neue sozialistische Regierung“, sagt Sansal, „konnte mit Schriftstellern nichts anfangen. Alle sollten Arzt, Wirtschaftsexperte oder Ingenieur werden. An der Universität wurden die literarischen Fachbereiche geschlossen.“ Er war 50, als er mit dem Roman „Der Schwur der Barbaren“ (auf Deutsch wie alle seine Bücher im Merlin Verlag) debütierte. „Dieses Buch war eine Form von Exorzismus“, sagt er. „Ich schrieb es 1998, als der Bürgerkrieg schon über sechs Jahre wütete. Damals arbeitete ich als Generaldirektor im Industrieministerium. Tag für Tag fuhr ich mit dem Auto von meinem Wohnort Boumerdès ins fünfzig Kilometer entfernte Algier. Weil es auf der Straße so gefährlich war, sorgte ich dafür, dass ich schon nachmittags wieder zu Hause war. Später sah man keine Menschenseele mehr auf der Straße. Die algerische Armee und die Islamisten beglichen alte Rechnungen. Das Land befand sich in einem blutigen Chaos. Überall wurde geschossen, jeden Tag gab es Tote.“

Er begann schreibend über die Lage nachzudenken, schickte das Manuskript im Dezember 1998 an Gallimard und war selbst erstaunt, dass es wenige Tage später angenommen war. „,Was für eine Katastrophe!’, sagte ich zu meiner Frau. Denn ich war stolz, hatte aber auch Angst. Das Buch ist ja ein ununterbrochener Strom von Kritik an der Korruption, dem Islamismus, der Einheitspartei, der Geschichtsfälschung, dem Rassismus, der Xenophobie, den Dogmen, dem Helden- und Märtyrerkult, der Verehrung der großen Führer, der Neigung, es sich in der Opferrolle bequem zu machen, der Militarisierung des Landes, der Gleichschaltung, der Propaganda, der pharaonischen Projekte, der hölzernen Sprache der Macht. Nach etwa zehn Tagen des Zögerns fand ich endlich den Mut anzurufen. 14 Tage später unterschrieb ich den Vertrag.“

Seine Kritik kam ihn teuer zu stehen. 2003 wurde er als Generaldirektor des Industrieministeriums fristlos entlassen. Sansal hätte sich während eines Frankreichaufenthalts in den Medien negativ über Abd al-Aziz Bouteflika geäußert, den alten Fuchs des Front de Libération Nationale (FLN), der 1999 zum Präsidenten gewählt wurde und heute, mit 74 Jahren, noch immer Algeriens Staatsoberhaupt ist. „Damals genoss Bouteflika im Westen und vor allem in Frankreich viel Unterstützung, nicht anders als Gaddafi“, sagt Sansal. „Viele attackierten mich, weil ich in französischen Interviews ständig wiederholte, dass Bouteflika und seine Clique Algerien ausplünderten. Ich nannte Bouteflika einen alten Schurken, der sich am liebsten unsterblich machen würde, indem er den Friedensnobelpreis bekäme. Meine französischen Kritiker behaupteten jedoch, dass Bouteflika Algeriens Retter sei, die Armee in die Kasernen zurückschicken und mit den Islamisten abrechnen werde. Kurz nach meiner Rückkehr bekam ich den Entlassungsanruf. Von da an waren meine Bücher verboten. Sie bekamen kein Visum mehr, sie durften nicht mehr importiert werden. Aber in den Buchhandlungen von Algier sind sie unter der Ladentheke trotzdem verfügbar.“

Sansal zögert nicht, Algerien ein Freiluftgefängnis zu nennen. Das Land, sagt er, sei isoliert und beherberge eine verlorene Generation junger Leute, von denen es heißt, dass ihre Rücken nur dazu dienen, die alten Mauern zu stützen. Ihre Hoffnung schöpfen sie allein aus dem Blick nach Europa. Diese Sehnsucht hat Boualem Sansal in seinem Roman „Harraga“ (2005) behandelt. Harragas sind illegale Migranten, die ihre Papiere verbrannt haben. Sie müssten, sagt Sansal, in Europa empfangen werden wie Menschen, die aus einem Lager geflohen sind, nicht wie halbe Verbrecher, die man mit einem Retourticket bestraft.

Im Laufe seiner Schriftstellerkarriere wurde Boualem Sansal zum Staatsfeind Nummer eins. Die Veröffentlichung von „Das Dorf des Deutschen. Das Tagebuch der Brüder Schiller“ (2008) wurde von der Obrigkeit als Sansals x-ter Angriff auf das heilige Erbe der algerischen Nation verurteilt: „Man hat mich beschuldigt, dass ich die algerische Revolution entehrt hätte, weil darin ein deutscher Nazi vorkommt, der am algerischen Unabhängigkeitskampf teilgenommen hat.“

Der Kern des Buches stützt sich auf Fakten. In den achtziger Jahren reiste Sansal über die algerische Hochebene. Unterwegs kam er in Aïn Deb in der Gegend von Sétif vorbei. Er war überrascht, wie ordentlich das Dorf aussah, das man „das Dorf des Deutschen“ nannte. „Man erzählte mir, dass es von einem Deutschen geleitet werde, der großes Ansehen genieße. Es handelte sich um einen ehemaligen SS-Mann, der im Nahen Osten gelandet war. Niemand schien Anstoß daran zu nehmen, dass dieser Deutsche ein Kriegsverbrecher war, der einen großen Anteil an der Ausrottung der Juden hatte, im Gegenteil, man bewunderte ihn.“

Nach der Veröffentlichung warf man ihm vor, die Shoah benutzt zu haben, um die Verbrechen des französischen Kolonialismus in Algerien zu bagatellisieren. „Aber eigentlich hatte ich etwas getan, was noch viel schlimmer war, als ein Tabu zu brechen. Viele einfache Algerier hatten ja noch nie von der Shoah gehört, und die, die doch davon wussten, hielten die Shoah für eine Erfindung der Juden.“

Anders als in Wirklichkeit hat der Nazi im Roman zwei nach Frankreich emigrierte Söhne, die in den Vorstädten von Paris mit der Schreckensherrschaft bärtiger Islamisten und Imame abrechnen. Für sie ist es ein Schock, dahinter zu kommen, dass ihr deutscher Vater ein Kriegsverbrecher war. „Man könnte sagen, dass es Parallelen zur deutschen Nachkriegsgeschichte gibt. Sehr viele algerische Kinder, die jetzt erwachsen werden, fragen ihre Väter, was sie während ,des schwarzen Jahrzehnts’ des Bürgerkriegs getrieben haben. Viele dieser Väter, inzwischen angesehene Bürger, die in der Moschee beten, waren in den neunziger Jahren maquisards, die Frauen vergewaltigt und unschuldigen Menschen die Kehle durchgeschnitten haben.“

Als neuer Friedenspreisträger fühlt sich Sansal nur teilweise besser geschützt. „Ich fürchte mich nicht vor den Behörden. Ich weiß, wie ihr System funktioniert. Allerdings schreckt die Regierung nicht davor zurück, Gegner notfalls von Banditen ermorden zu lassen, die der Geheimdienst anheuert. Ich habe mehr Angst vor den Islamisten. Sie brauchen von niemandem die Genehmigung zu töten. Ruhm ist kein Rezept gegen ihre Rache, eher im Gegenteil.“

Die Zukunft seines Landes betrachtet er indes mit vorsichtigem Optimismus. Die Machthaber, deren Auslandskonten von Devisen starren, versuchen der Unzufriedenheit in der Bevölkerung zwar entgegenzutreten, indem sie Lehrer, Polizisten, Richter und Ärzte mit Lohnerhöhungen für sich einnehmen. Aber er ist überzeugt, dass auch in Algerien die Apathie der Überzeugung des Volkes weichen wird, dass Demokratie, Pluralismus und freie Meinungsäußerung in Reichweite sind: „Bouteflika ist alt und krank. Er kann jeden Tag sterben. Es ist ausgeschlossen, dass die Machthaber danach noch zur Tagesordnung übergehen können.“

Der Belgier Piet de Moor lebt als Journalist in Gent und Berlin. Waltraud Hüsmert hat seinen Text aus dem Niederländischen übersetzt. Boualem Sansal liest am heutigen Mittwoch um 19 Uhr, moderiert von Wolfgang Herles, im Allianz Forum (Pariser Platz 6) aus seinem Roman „Das Dorf des Deutschen“.. Anmeldung unter pariserplatzderkulturen@event-consult-berlin.de.

Piet de Moor

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