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Gefangen in Rotterdam.

© Abbildung: Barbara Yelin/C.H. Beck

Schreiben, um zu überleben: Bayrische Bitternisse

Im Schatten des Zweiten Weltkriegs: Jan Bazuins „Tagebuch eines Zwangsarbeiters“.

Während des Zweiten Weltkriegs verschleppten die Deutschen 13,5 Millionen Menschen aus den von ihnen besetzten Ländern. Sie schufteten in der Industrie, im Bergbau und in der Landwirtschaft. Fast eine halbe Million kamen aus den Niederlanden; ganze Jahrgänge wurden auf brutale Weise zwangsverpflichtet. Bei der berüchtigten Razzia von Rotterdam im November 1944 nahm die Wehrmacht wahllos 54 000 Männer zwischen 17 und 40 Jahren fest und rekrutierte sie als Arbeitskräfte für das Deutsche Reich.

Jan Bazuin wurde im Januar 1945 zusammen mit 500 weiteren Zivilisten in einem Güterzug von Rotterdam nach München deportiert. In seinem jetzt erstmals publizierten Tagebuch schildert der 19-Jährige seine Erlebnisse in Bayern während der letzten Kriegsmonate. Es ist ein ergreifendes Dokument, das einen Einblick gibt in die Gedankenwelt eines Zwangsarbeiters.

[Jan Bazuin: Tagebuch eines Zwangsarbeiters. Aus dem Niederländischen v, Marianne Holberg.- Illustrationen von Barbara Yelin. C. H. Beck, München 2022. 160 S., 20 €.]

In seiner umfassenden Untersuchung „Zwangsarbeit unter dem Hakenkreuz“ (2001) hat Mark Spoerer darauf hingewiesen, dass sich die Behandlung der Zwangsarbeiter im NS-Staat je nach Herkunft deutlich unterschied. Während die als „slawische Untermenschen“ verachteten Ostarbeiter oft unmenschlichen Bedingungen ausgesetzt waren, häufig mit tödlichen Folgen, wurden Westeuropäer „als rassisch-kulturell fast gleichwertig eingestuft“ und waren zumindest nicht völlig rechtlos.

Transport im eiskalten Viehwaggon

Jan Bazuins Tagebuch zeigt, dass aber auch sie enormes Leid auszustehen hatten. Bereits der 75-stündige Transport in einem eiskalten Viehwaggon ist eine Tortur für die psychisch und physisch angeschlagenen Menschen. „Hunger, Hunger, Hunger und nochmals Hunger“, notiert Bazuin: „Wie lange werde ich das aushalten?“

Bei der Ankunft im Durchgangslager Dachau-Rothschwaige wird es kaum besser. Als Basso continuo zieht sich die Klage über die unzureichende Ernährung durch die Aufzeichnungen – mit einer Unterbrechung von wenigen Wochen: Nach der Überstellung ins Reichsbahnausbesserungswerk München-Neuaubing gelingt es dem Niederländer, sich einen Posten in der Lagerküche zu verschaffen, womit das Hungern vorerst ein Ende hat.

Im RAW Neuaubing, einem kriegswichtigen Großbetrieb mit 1300 Zwangsarbeitern, wurden Waggons instandgesetzt und für Kriegszwecke umgerüstet. Bazuin bekommt anderes zu tun: Nach dem Ende seines Küchendienstes wird er zum Müll- und Schneeräumen, zum Sieben von Chlorkalk und bei Maurerarbeiten eingeteilt.

Was ihm neben Hunger, Kälte und Heimweh immer stärker zusetzt, ist die Bedrohung durch alliierte Luftangriffe. Einige Male verdankt er sein Überleben nur dem Zufall. „Jede Minute den Tod vor Augen“, entschließt er sich am 21. April 1945 zur Flucht und gerät am nächsten Tag beinahe zwischen die Fronten: „Ein Lärm war das! Das Rattern der Maschinengewehre, das Geratter der Panzer, die Schreie der Menschen, das Pfeifen der Kugeln.“ Wenige Minuten darauf reicht ihm ein amerikanischer Soldat eine Zigarette.

Schreiben als Balancierstange

Knapp und schnörkellos skizziert Jan Bazuin, was ihm widerfährt; nur an wenigen Stellen reflektiert er seine Situation. Offenbar ging es ihm einfach darum, das Erlebte festzuhalten, um sich später daran erinnern zu können. Zugleich muss das Schreiben für ihn eine Art Balancierstange gewesen sein, die ihm half, über die Abgründe der Gegenwart hinwegzukommen.

Was auffällt, ist das Fehlen jeglicher Ressentiments gegenüber den Deutschen. Kaum einmal findet sich eine kritische Bemerkung. Einmal schimpft er über die „Verbrecherbande“, die ihn tagelang hungern lässt. Doch als ihn hinter der Front ein deutscher Soldat mit einem „Loch in seinem Bein, so groß, dass meine beiden Fäuste leicht darin Platz gehabt hätten“, um Hilfe bittet, zögert er nicht. „Nein, so kann man keinen Menschen ohne Hilfe zurücklassen.“

Paul-Moritz Rabe vom NS-Dokumentationszentrum München, der das Tagebuch herausgegeben hat, spricht in seinem Nachwort von einem „Glücksfall“; nur wenige zeitgenössische Zeugnisse von Zwangsarbeitern seien erhalten. Auch Jan Bazuins Aufzeichnungen hätten leicht verlorengehen können. Nach seinem Tod 2001 fand sein Sohn sie im Nachlass.

Vorwurf der Kollaboration

Nie hatte Bazuin über seine Zeit als Zwangsarbeiter gesprochen. Ein Grund hierfür könnte der Vorwurf der Kollaboration gewesen sein, der in den Niederlanden nach dem Krieg gegen die Heimkehrer aus Deutschland erhoben wurde und, wie es bei Mark Spoerer heißt, noch in den 90er Jahren zu hören war.

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Die Ausgabe bei C. H. Beck hat ein junges Publikum im Blick, das sich laut einer kürzlich veröffentlichen Studie wieder stärker für die Zeit des Nationalsozialismus interessiert. Tatsächlich lädt die Geschichte des 19-jährigen Niederländers, der sich im deutschen Arbeitslager nach seiner Freundin in Rotterdam sehnt, zur Identifikation ein.

Hilfreich sind dabei ganz sicher das ausführliche Glossar sowie die Illustrationen von Barbara Yelin, die, 2016 als beste deutschsprachige Comic-Künstlerin mit dem Max-und-Moritz-Preis ausgezeichnet, Bilder von suggestiver Kraft beigesteuert hat.

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