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SCHREIB Waren: Alles außer Hochdeutsch

Steffen Richter erfreut sich am Sächsischen in Wort und Schrift

In Leipzig, berichtet Thomas Mann, „reden die Leute überaus teuflisch gemein“. Aha, Sächsisch also ist die Sprache des Teufels. So steht es im „Doktor Faustus“. Und da es auch die Sprache von Walter Ulbricht war, galt Sächsisch im Westen nicht selten als die des Ostens schlechthin. Das wiederum bedeutet: hinterwäldlerisch und ziemlich unelegant. Man kann Schwaben nur bedauern, die irrtümlich für Sachsen gehalten werden!

Der miese Ruf des Sächsischen verdeckt jedoch seinen Beitrag zur Gegenwartsliteratur. Man denke an Dresdner wie Volker Braun, Ingo Schulze oder Uwe Tellkamp. Ja, das ist ein besonderer Ton. Oder Wolfgang Hilbig. Die meisten, die Hilbig haben lesen hören, waren fassungslos. Der Heizer von Meuselwitz bei Leipzig sprach ein Sächsisch, das sich kaum mit anderen Einflüssen verschliffen hatte. Es war nicht der weichgespülte Dialekt, der medial einigermaßen akzeptiert wird. Das machte es unmöglich, Hilbigs mündliches Sächsisch mit seinem hochartifiziellen, filigranen Schriftdeutsch zusammenzudenken. Was für ein Schock muss es für Natascha Wodin gewesen sein, dem verehrten Dichter, den sie nur aus Büchern kannte, zu begegnen! Der Schock hat sich jenseits des Dialekts fortgesetzt. Denn Hilbig, der 1986 ausreisen konnte und zu seiner Schriftstellerkollegin und Geliebten Wodin zog, wurde im Westen nicht glücklich. Zwar war er bald erfolgreicher Schriftsteller, aber auch alkoholkranker Soziopath, dem mit der DDR sein Bezugssystem abhanden gekommen war. Natascha Wodin hat diese Dreierbeziehung zwischen ihr, der Literatur und Hilbig nach dessen Tod vor zwei Jahren in einen Roman gegossen. „Nachtgeschwister“ heißt er (Verlag Antje Kunstmann). Wodin liest daraus (gewiss nicht auf Sächsisch) am 22. Oktober, 20.30 Uhr, im Buchhändlerkeller (Carmerstr. 1, Charlottenburg).

Von Hilbigs Geburtsort Meuselwitz sind es gut 30 Kilometer bis Gera. Dort, in kontaminiertem Gelände, wo die sowjetische Wismut Uranbergbau betrieb, liegen die Gründe für Lutz Seilers Literatur. Dessen Heimatdorf wurde geschliffen, die Geigerzähler ticken bis heute in seinen Texten. Allerdings schreibt der Lyriker, der selbst notorische Lyrik-Muffel zum Gedicht bringen kann, nun auch Höchstqualitätsprosa. Das hat sich herumgesprochen, seit er mit der Erzählung „Turksib“ den Bachmannpreis gewann. Jetzt gibt es den ersten Erzählungsband „Die Zeitwaage“ (Suhrkamp). Man könnte ihn einen subtilen Kommentar zur Mentalität zwischen Gera und Meuselwitz nennen. Seiler stellt ihn am 21.10. (20 Uhr) im Literarischen Colloquium vor (Am Sandwerder 5, Zehlendorf). Gesprochen wird in Gera ein thüringisch-obersächsischer Dialekt. Da einer von Seilers Gesprächspartnern Ingo Schulze aus Dresden ist, wird es nicht nur ein literarisch hochkarätiger Abend – es wird ein Fest des Zungenschlags.

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