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Kultur: Schritt für Schritt

Diedrich Diederichsen über die finsteren Einflüsse der MTVKultur MTV kriegt es zur Zeit von allen Seiten ab. Dabei war schon vor dem letzten Golfkrieg klar, was man von dieser Agentur in Sachen Jugendkulturverwertung zu halten hatte.

Diedrich Diederichsen über die finsteren Einflüsse der MTVKultur

MTV kriegt es zur Zeit von allen Seiten ab. Dabei war schon vor dem letzten Golfkrieg klar, was man von dieser Agentur in Sachen Jugendkulturverwertung zu halten hatte. Beck formulierte es in seinen prä-nachdenklichen Tagen treffend: „MTV makes me wanna smoke crack!“ Das hielt immerhin die Hintertür offen, dass das Crack-Rauchen auch seinen Reiz haben könnte. Denn MTV ist zwar übel für die Gesundheit (vor allem dieser bayerische Moderier-Knilch), genießt aber genau den Status, auf den sonst die Sozialdemokraten abonniert sind: den des kleineren Übels. Nun hat aber die gerne als große alte Dame apostrophierte Joni Mitchell gegenüber „Rolling Stone“ – wir wollen gar nicht erst darüber reden, welchen Wunsch nach welchen Drogen die Lektüre dieser Zeitschrift bei uns weckt – erklärt, MTV mache sich der Sexualisierung schon der Jüngsten schuldig und zerstöre damit die Kultur. Sofort sekundierten „FAZ“ und „Zeit“, dass auch sie das schon immer hätten sagen wollen und sich nur wegen befürchteter Kulturpessimismus-Vorwürfe nicht getraut hätten. Jetzt aber, wo Joni Mitchell, die sich einst im Namen von „Don Juans ruchloser Tochter“ als Apologetin klassischer sexueller Ruchlosigkeit ins Gespräch gebracht hat, Alarm ausgibt, dürfen wir auch.

Entsetzt waren sie vor allem von Mitchells Beispiel: Ihre dreijährige Nichte habe sich vor ihren Augen in den Schritt gefaßt – unter dem Einfluss von MTV. Doch die Erschütterung darüber spricht nicht nur nicht gegen MTV, sondern vor allem dafür, dass weder die Veteranin des Folk-Rock-mit-Jazzeinflüssen, noch die ihr ideologisch zu Füßen liegenden Autoren viel Erfahrung mit Dreijährigen haben. Man darf sich da nicht auf die Familienserien im öffentlich-rechtlichen Fernsehen verlassen, die wohl noch immer von CDU-Familienministerinnen der 80er Jahre kontrolliert werden: Echte Dreijährige fassen sich triumphierend und schamlos den ganzen Tag an Körperstellen, bei denen selbst MTV einen Waschlappen benutzen würde. Oder Zahnstocher. Und sie taten dies schon, als Christina Aguileras Eltern noch gar nicht wussten, was ein Fernsehgerät ist.

Auf der anderen Seite des spaßtheoretischen Spektrums freut sich die „Süddeutsche“ über die Ehrungen von Eminem bei den MTV-Awards. Und das obwohl wir wissen, dass Dreijährige auch auf den schlecht ansprechen. Der allabendliche Veitstanz vorm Zubettgehen ist fraglos in der Hexenküche von Slim Shady choreographiert worden. Dem jungen „SZ“-Autor ist es dagegen immer noch eine Freude, dass Eminem endlich Luft in die vermuffte gesellschaftliche Atmosphäre reinlässt und endlich mal was gegen Schwule sagt. Stimmt, den Brüdern geht es langsam viel zu gut, jetzt, wo auch Harald Schmidt manchmal seinen allabendlichen Schwulenwitz vergisst. Man fragt sich, was ranziger ist: sich 25 Jahre nach Punk immer noch daran zu freuen, dass es einer den Politisch Korrekten zeigt, indem er Mainstream-Stammtischwitze reißt, oder die fade Entschuldigung, er würde sich „über alles“ lustig machen. Komisch nur, dass „über alles“ immer mit „z.B. Schwule“ spezifiziert wird. Jedenfalls reicht das Argument nicht, dass er auch sich selbst nicht ernst nehme: ein Komiker, der sich selbst nicht ganz ernst nimmt, wäre einer, der die Geltung des Gießkannen-Prinzips Komik anzuzweifeln bereit wäre, nicht einer, der in Berufung auf dieses Prinzip auch sich selber nassmacht. Das ist im Gegenteil ganz fade und unangreifbar – denn Witzfigur war er ja immer schon.

Wer ist dagegen heute ein großer MTV-Künstler? Natürlich Pink. So ein großes rosa Mädchen. Dreijährige gründen quietschend Untersuchungsausschüsse, wenn sie sie auf MTV sehen. Natürlich Las Ketchup. Wie die Spanier noch immer daran glauben, dass man einen Hit über die Melodie hinkriegt! Aber die drei rührenden und ein bisschen hässlichen Spanierinnen, die auch mal über die eigene Unfähigkeit zur englischen Pronunziation lachen und selbstreflexive Urlaubshits schreiben können, schaffen das mühelos. Und natürlich Sophie Ellis Bextor: das Glamourgirl des mittleren Formats. Dreijährige gründen Gebrauchtwagenmärkte und gendertheoretische Arbeitsgruppen.

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